Frank Wedekind ein Schweinehund?

Dramaturgin Leonie Ute Maria Adam hat ein bisschen in den Tagebüchern von Frank Wedekind (,,Ein erotisches Leben“) und Franziska zu Reventlow (,,Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich“) geblättert … Von wegen, literaturwissenschaftliche Recherche ist öde.

Kaum jemand hat das deutsche Schulsystem durchlaufen, ohne mit einem von Frank Wedekinds Stücken wie Frühlingserwachen oder Lulu konfrontiert zu werden. Ob als Pflichtlektüre, naturalistischer Theaterinszenierung der 90’er Jahre oder auch meist männlicher Regieinterpretation der allzu „interessanten“ Frauenfiguren. Wedekind ist unbefristet in den deutschen Kanon als subversiver und aufklärerischer Autor eingezogen und hält dort die Stellung. Und das vor allem, weil er sich (jugendlicher) Sexualität literarisch widmete, dafür per Zensur von Kirche und Staat auf den Deckel bekam und wegen Majestätsbeleidigung im Knast saß? Wenn das die Aufnahmekriterien für den Kanon sein sollten, dann fragt man sich, wieso der Roman Feuchtgebiete und die Geschichte der Pussy Riots nicht längst Pflichtlektüre sind.

Was ist dran an Wedekinds Subversivität?

Tauchen wir in die Zeit um 1900 ein. Wedekind lebt vom Erbe seines Vaters, verkehrt viel in Paris, Berlin und München, ist schon ein recht angesehener Autor und hat starken Einfluss auf die Münchner Bohème. Sein bereits 1891 erschienenes Theaterstück Frühlingserwachen erfährt durch seinen Skandalcharakter viel Aufmerksamkeit und gilt als Spiegel für die Heuchelei und biedere Sexualmoral der Wilhelminischen Gesellschaft. Wedekind ist bei der Veröffentlichung erst 27 Jahre alt und verarbeitet die Eindrücke seiner sexnegativen Sozialisation als junger Mann und den Suizidversuch eines Bekannten. Viele Jahre später trifft der Verleger Korfus Holm Frank Wedekind im Verlagshaus der Satire-Zeitung Simplicissimus, für die Wedekind gelegentlich schreibt, und hält in seinen Schriften (Heitere Erlebnisse eines Verlegers) flüchtige Begegnungen mit ihm fest. Der als angeblicher Bürgerschreck bekannte Autor, ,,den man sich heute wohl nur glattrasiert vorstellen kann, trug zu der Zeit noch seine – ihm zwar nicht ohne einige Übertreibung nachgesagten – ‚sieben Bärte‘ die ihm etwas vom Mephistopheles und auch etwas vom Bock verliehen. Es stand mit dem wie jenem aber höchstens halb so schlimm, als er die Leute glauben machen“. Holm sieht in Wedekind jemanden, der in seiner bemühten Selbstinszenierung seiner Verruchtheit durch Kleidung und Gestus Ausdruck zu verleihen versucht. ,,Auch seine Zungenspitze wurde häufig bei der Bändigung des Gebisses mit bemüht; dies zu maskieren, leckte er sich dann frivol die Lippen wie ein blutdürstiger Tiger der Erotik und schuf sich so aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Dämonie und eine Glorie von Lasterhaftigkeit“. Besonders wenn Damen anwesend sind, bemüht sich Wedekind, seiner tiefen, düsteren Seele Ausdruck zu verleihen. Seine Tagebücher aus dieser Zeit hinterlässt er der Nachwelt dann auch später mit dem Titel: Wedekinds Tagebücher - ein erotisches Leben. So well.

Holm erkennt in dem Autor die einfache Angst, „es könnte jemand meinen, daß er in vielen Stücken schlichterdings ein Mensch wie andre sei. (…) viel bürgerlich normaler als er der Welt, und am erfolgreichsten sich selber, vorzutäuschen liebte.“

Neben Lulu und Frühlingserwachen schreibt Wedekind bis 1911 das weniger bekannte Stück Franziska – ein modernes Mysterium in fünf Akten und widmet sich hier ganz dem polyamoren Begehren der gleichnamigen Protagonistin Franziska, die einsam und geil einen Pakt mit Veit Kunz, dem Star-Coach, eingeht. Der Deal verspricht maximale Freiheit, indem Veit Kunz die Welt für zwei Jahre glauben lässt, Franziska wäre ein Mann. Diese entscheidet sich jedoch nach wildem Schauspielerinnenleben und biederer Ehe für ein Leben mit ihrem Sohn in Freiheit, ohne Männer, und findet darin ihren Seelenfrieden. Wedekind verarbeitet in diesem Stück, welches als weibliche Analogie zu Faust geschrieben ist, nicht nur seine Kritik an Goethe, sondern man könnte meinen, er möchte hier und da intellektuelle Schwanzvergleiche mit dem Dichter sowie dem Münchner Kosmikerkreis durchführen. Durchaus profeministisch zu deuten ist jedoch, dass er die Figur Franziska den Teufel Veit Kunz, der sich unsterblich in sie verliebt, überlisten lässt und allen Männern, die sie besitzen wollen, die kalte Schulter zeigt. Man kann dieses Narrativ und auch die Szenen in der Kneipe (hier Claras Stube, nicht Auerbachs Keller) und der Szene des Ehelebens durchaus als wichtige Kritik an der vorherrschenden Männlichkeit und der patriarchalen Gesetzgebung deuten, auch wenn die Szenen Misogynie als Vorgang reproduzieren. Zugleich bleibt die Vermutung bestehen, dass sich Wedekind der Welt als besonders emanzipierter, selbstkritischer Autor mit diesem Stück darstellen wollte. In dem von seiner Tochter Kadija dem Stück nachträglich hinzugefügten Vorwort und seinen Notizen zur Erotik dringen durchaus skurrile Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit als dualistisches System durch. Auch die problematische Vorstellung des „Mignons“, als ,,knabenhaftes, erotisch anziehendes Mädchen“, die ursprünglich eine literarische Figur von Goethe (Wilhelm Meisters Lehrjahre) ist, findet in den einführenden Worten des Stücks für die Lesart der Figur Franziska Platz und irritiert. Was jedoch der Vorstellung der Tochter Kadija und was Frank Wedekinds kosmischen Versuch, „kritisch“ den Geschlechterrollen entgegen zu treten, entspringt, ist schwierig zu trennen.

Franziska – ein modernes Mysterium in fünf Akten. Der Titel des Stücks gibt Aufschluss über die Männer-Phantasie des Autors von weiblicher Emanzipation

Ideologisch aufgeladene Mystifizierungen von Weiblichkeit und dem Matriarchat, skurrile Esoterikphantasien, antibürgerliche Angeberei und Personenkult um Nietzsche und Ludwig Klages, zeichnet den Kosmikerkreis aus. Obwohl sich Wedekind wohl von den Kosmikern, die die Münchner  Bohème maßgeblich prägen, distanziert, lassen sich ähnlich mystifizierende Darstellungen freier Sexualität von Frauen in seinen Werken erkennen. Eine verblüffende Ähnlichkeit besteht zwischen der literarischen Figur des Werks und der Biografie einer realen Zeitgenossin Wedekinds: Franziska Gräfin zu Reventlow, die als polyamore, alleinerziehende Mutter und Autorin in den Kreisen der Kosmiker schnell bekannt ist. Wedekind scheint in seinem Stück ihre Biografie abzubilden und dabei seine eigene Distanzierung zum Kosmikerkreis darzulegen. Die Figur des Veit Kunz hat große Ähnlichkeit zu Oberguru Ludwig Klages, der die echte Franziska zu Reventlow als „Schwabinger Madonna“ seit Beginn ihres Zuzugs nach München unter seine Fittiche nimmt und in die Kreise der gehobenen Gesellschaft einführt. Reventlows erste Werke entpuppen sich so auch als „Aufnahmeprüfung“ des Kosmikerkreises, wie später in ihrem Werk Herr Dame deutlich wird. Darin stellt sie den Kosmikerkreis und seine selbstgegebene Wichtigkeit jedoch geschickt zur Schau und entlarvt die Szene als leere Angeberei. Das kann also nicht nur Wedekind. Im Gegensatz zu ihm verfügt sie jedoch über kein Erbe, von dem sie leben kann, sondern muss stets um ihre Unabhängigkeit und ihre Existenz kämpfen und durchaus unfreiwillige Ehen aus Absicherung eingehen. In Reventlows Tagebüchern und Essays scheint die Widersprüchlichkeit ihrer Existenz als prekarisierte Künstlerin und alleinerziehende Mutter mit dem Drang nach Unabhängigkeit auf klare und poetische Weise durch.

„Vielleicht brächte ich es soweit, in Glanz zu leben, aber ich hätte dann alles andere nicht, meine absolute Freiheit und mein Leben für mich.“ (1896)

Franziska zu Reventlow wäre statt Autorin lieber Malerin und Schauspielerin gewesen, schreibt jedoch unter anderem auch für den Simplicissimus Kurzgeschichten und Romane um Geld zu verdienen. Ihre beeindruckenden literarischen Werke, wie ihre Tagebücher (Wir schauen uns ins Auge, das Leben und ich. Tagebücher 1895-1910), schildern nicht nur im Gegensatz zu Wedekind wirklich ein polyamores, erotisches Leben, sondern auch eines, welches von tiefer Armut und Depression geprägt ist. Die Kosmiker mystifizieren Franziska zu Reventlow zu einer ,,Wiedergeburt der antiken Hetäre“, haben gelegentlich auch bezahlten Sex mit ihr, denn auch so hält sie sich finanziell über Wasser. In ihrer Schrift Viragines oder Hetären? (1899) äußert sie sich politisch, greift die Lage der Proletarier:innen als revolutionsbedürftig auf, kritisiert die entsubjektivierende Erziehung junger Mädchen zu entmündigten Wesen und erklärt die Ehe zum monogamen Zuchthaus der Frau, das es abzuschaffen gilt. Gleichzeitig widerspricht sie der sich um 1900 bildenden Frauenbewegung, der Vorstellung von Gleichheit und der These, Frauen seien ein von männlicher Vorherrschaft unterdrücktes Wesen. Sie geht eher d’accord mit dem biologistischen Ansatz der Naturalisten und spricht Frauen keine wissenschaftlichen Kompetenzen und dafür sinnliche, kreative und mütterliche Fähigkeiten zu.

Wedekind und Franziska zu Reventlow begegnen sich um 1900 in Schwabing persönlich und lernen sich dort kennen. (Tagebücher um 1900)

Franziska scheint durchaus berührt von den Begegnungen mit Wedekind und einen kleinen Crush auf den Autor zu haben. ,,Ich Abends mit Rodi zu den Schafrichtern, wo wir unsrer gemeinsamen Verliebtheit für W(edekind) fröhnen. Danach mit Falkenberg im Café, der bestürmt wird uns ein Rendezvous mit W. zu verschaffen. (..) Dann das Rendevouz mit Wedekind (…), das etwas ins Wasser fällt (…). Ich begleite Wedekind noch ein Stück, wobei er etwas wärmer wird, aber es wurde nichts Rechtes mehr.“ Später beschreibt sie immer Träume und kurze Begegnungen mit Wedekind, in denen sie amoreaux sind und sie in eine angenehm verträumte Stimmung bringen. ,,Von Wedekind geträumt. Gingen zusammen über einen dunklen Hof zu einer Bretterbude. Er gab mir einen kleinen Frosch zu verschlucken und fragte dann, ob er nicht ein Schweinehund wäre. Ich: Nein, er wäre doch wundervoll.“ Franziska findet eine ernste Bewunderung für Wedekind, doch bleibt die Frage offen, inwiefern das fast biografische Stück, welches Wedekind über Franziska zu Reventlow schreibt, ihr als Person finanziell und in Form von Anerkennung zu Lebzeiten überhaupt zu Gute kam. Wurde ihr hier die Rolle der Muse, des bewunderten Kunstobjekts gegeben, von dessen Ertrag zwar Wedekind, aber nicht Franziska selbst, leben konnte? Immerhin steht er 1912 mit seiner 22-Jahre jüngeren Frau Tilly selbst auf den Brettern der Münchner Kammerspiele und spielt die Erstaufführung von Franziska - ein modernes Mysterium in fünf Akten, was die Kassen klingeln lässt. Hätte sie gerne selbst gespielt? Franziska zu Reventlow zieht in jedem Fall klar die radikale Freiheit, wie tatsächlich im Stück, mit ihrem Sohn, vor.
Holm, der ihr auch im Verlagshaus begegnet, fragt sie beiläufig eines Tages, wer denn der Vater des Kindes sei, und sie zuckt die Achseln und antwortet: ,,Lieber Gott, ein fremder Herr – so wie ich heute zu ihm stehe. Den geht der Bub nicht das geringste an. Ich würde es mir schön verbitten, wenn er sich um ihn bekümmern wollte." Vielleicht sollte Frank Wedekind seinen Kanonplatz an Franziska zu Reventlow zumindest jetzt abgeben. Es wäre Zeit.

 

Veröffentlichung: 02.12.21