Ganz bei sich und seiner Kunst
Hauschoreograf Samir Akika schreibt in der November-Ausgabe der deutschen Bühne über seine aktuelle Choreografie und den Entstehungsprozess einer Performance als gegenseitigen Öffnungsprozess. Wir dürfen den Artikel freundlicherweise zweitveröffentlichen.
Die Türen sind geschlossen, das Publikum ist da. Du weißt, dass alle im Raum Erwartungen haben. Die Inspizientin fragt, ob wir anfangen können. Du trägst noch nicht mal ein Kostüm. Du hast deine Alltagsklamotten an. Du gehst raus. Der Bühnenraum wirkt merkwürdig, das Licht falsch eingestellt, und möglicherweise wird es die ganze Performance so bleiben. Es gibt kein Skript. Du schaust dich um und siehst nur die leeren Augen deiner Kollegen. Du musst eine Entscheidung treffen, aus dem Bauch heraus handeln. Wer von euch sollte anfangen? Wie sollte er anfangen? Findet zusammen einen guten Anfang, ermutige die, die es schließlich machen sollen. Fertig. Geh zur nächsten Szene. Vielleicht habt ihr mittlerweile Spaß an der Sache gefunden, und auch wenn es mal brenzlig wird: Einer von euch hat immer eine gute Idee oder macht einen Witz. Ihr seid verletzlich, bleibt aber kreativ und konzentriert. Während ihr die richtigen Fragen stellt, wechselt ihr zwischen bösen Zauberern und Clowns, zwischen Schnulze und großem Tänzer. Keine Klagen.
(Little) Mr. Sunshine dreht sich um die Kunst des Performens, die Funktion der Performance und Innenansichten der Performer.
Meine Arbeiten basieren ohnehin sehr häufig auf autobiographischen Erfahrungen. Begonnen hat das alles schon früh. Nach meinem Folkwang-Studium wollte ich mich von Pina Bausch abgrenzen. (Ich weiß nicht, ob ich das geschafft habe.) Deswegen habe ich mich damals gefragt, was mich von dieser Weise zu tanzen unterscheidet, und mein erster Gedanke war: Filme. Ich habe alle möglichen Filme gesammelt, hatte Hunderte Videokassetten, von denen ich unterschiedliche Szenen und Monologe auf der Bühne zusammengeschnitten habe. Meine Arbeit damals war sehr nah am Filmischen. Später habe ich einen Kollegen aus Belgien kennengelernt, der sehr auf Dokumentationen stand. Ich mochte die überhaupt nicht. In der Schule sind wir früher jeden Mittwoch ins Kino gegangen, wo ich im Sessel versank und auf den magischen Moment wartete, wenn der Film beginnt und einen wegträgt. Aber immer kam dann eine Dokumentation über Galapagos oder so – und man konnte nicht träumen, sondern musste etwas lernen. Aber der Kollege hat mir schließlich einige Dokumentationen gezeigt, und ich fing an, mich dafür zu interessieren, wie unterschiedlich die Menschen in meiner Umgebung sind. Als ich ans Stadttheater kam, habe ich erst einmal die opulenten Möglichkeiten genossen.
Mittlerweile interessiert mich eher eine reduzierte Umgebung, damit der Fokus auf dem Körper, dem Charisma, der Energie und den Gefühlen der Person auf der Bühne liegt.
Mit den Proben zu (Little) Mr. Sunshine haben wir zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown begonnen. Corona zwang die Tänzer zu großem Abstand zueinander, sie befanden sich wie in Blasen. Dadurch war ihre Arbeit individueller als sonst. Erst jetzt können wir wieder näher zusammenrücken.
Vertrauen ist ohnehin die Basis: Wir sprechen über ihre Beziehung zu ihren Eltern und ihren Geschwistern, über ihre Familiengeschichten und darüber, wie es kam, dass sie wurden, wer sie heute sind. Deswegen heißt das Stück auch (Little) Mr. Sunshine, weil es viel um Kindheit geht. Gleichzeitig geht es aber auch um das Performen selbst. Performer zu sein ist dabei ein Balanceakt. So sehr man auch von Autobiographischem ausgeht: Man steht auf der Bühne, man performt, befreit sich von den Beschränkungen des Lebens, lässt seine Vorstellungskraft spielen. Und dann muss man zurückkehren in den Alltag, muss sich erholen. Manche brauchen dafür die Bundesliga oder den Tatort, manche lesen ein Buch oder pflegen enge familiäre Beziehungen – man muss einen Ausgleich finden. Wenn wir uns anschauen, warum Menschen ins Theater kommen, dann hat das ja genau etwas mit diesen zwei Seiten zu tun. Wenn wir im Kino sitzen, träumen wir uns aus unserem Leben weg, alles ist perfekt. Im Theater bin ich aber, weil ich die Menschen auf der Bühne tatsächlich sehen will, mit ihrer Körperlichkeit, ihrer Begrenztheit.
Man möchte fühlen, was da für ein Mensch auf der Bühne steht, wie alt er ist, welchen kulturellen Hintergrund er hat.
(Little) Mr. Sunshine ist für uns eine Reise durch unser Verständnis von Theater, unser Verständnis unserer Arbeit und dem, was sie für unser Leben bedeutet. Warum machen wir weiter? Vielleicht weil wir nichts anderes können oder weil wir hoffen, etwas Besonderes zu erreichen? Weil unsere Eltern uns zu wenig geliebt haben oder wir berühmt sein wollen? Vielleicht machen wir es auch wegen der einzigartigen schönen Momente auf der Bühne?
In diesem Abend möchte ich Teile unserer Träume zeigen und so unsere Frustrationen und unser Scheitern wettmachen.
Im Übrigen will ich ehrlich sein: Ich frage meine Performer oft nach ihren Familiengeschichten, nach ihren Beziehungen zu Eltern und Geschwistern, nach traumatischen Erfahrungen. Aber ich bringe selbst nie etwas aus meiner Familiengeschichte auf die Bühne, ich bringe nichts davon in den Prozess ein. Trotzdem versuche ich immer, mich ihnen zu öffnen, mich als verletzlich oder dumm zu zeigen. Manchmal mache ich das mit einer Geschichte, oder ich ziehe ein Hühnerkostüm an und versuche über das Theater zu reflektieren … Ich sage ihnen nicht, was sie tun sollen, ich tausche mich mit ihnen aus. Ich öffne mich ihnen, und sie öffnen sich mir. Sie bekommen einen Raum, in dem sie sie selbst sein können. Ich versuche, ihnen zu vertrauen und geduldig zu sein – und manchmal bin ich dann doch auch ein bisschen bossy, aber ich arbeite an mir.
Erschienen in Die deutsche Bühne, November 2021, zur Ausgabe geht es hier.
Veröffentlichung: 3.11.21