„Gefährlich, lustig, wild oder verzweifelt, zart, verletzt, in Liebe entbrannt"
Anlässlich der Verleihung des Kurt-Hübner-Preises 2022 hielt Regisseurin Tatjana Gürbaca die Laudatio für die Preisträgerin Marysol Schalit.
Sehr verehrtes Publikum,
liebe Bremer Theaterfreunde und -freundinnen, liebe Jury,
lieber Michael Börgerding, liebe Bremer Theaterfamilie,
aber vor allem liebe Marysol,
als ich hörte, dass der Kurt-Hübner-Preis in diesem Jahr an Marysol Schalit verliehen wird, hat mich das außerordentlich gefreut. Es erscheint mir in jeder Hinsicht logisch und richtig, dass diese besondere, einzigartige Sängerin ausgezeichnet wird. Es ist wunderbar, hier stehen zu dürfen und eine Laudatio zu halten für eine Künstlerin, die ich so unglaublich schätze, aber eben auch für einen Menschen, den ich außerordentlich mag und mit dem ich schon die unglaublichsten Reisen auf verschlungenen Pfaden in das unberechenbare Reich der Imagination unternommen habe. Ich denke, dass die Verleihung des Preises an Marysol in Wahrheit nicht nur ein Fest für sie und uns alle ist, sondern für das Theater an und für sich. Lassen Sie mich das hier kurz näher erläutern:
Haben Sie sich schon einmal gefragt, was den Beruf eines:einer Sänger:in überhaupt ausmacht? Was es bedeutet, singend und spielend seine Seele zu öffnen? Was es an Fähigkeiten und Arbeit verlangt und was es dann am Ende mit uns – dem Publikum – macht?
Stellen wir uns alle kurz einmal vor, wir wären Sänger:innen, würden also diesem wahnsinnigen Beruf nachgehen, den Marysol hat: Also – wir müssten eine schöne Stimme haben und ein Talent, etwas darzustellen, eine Rolle zu spielen, irgendwann müsste jemand das gemerkt haben (vielleicht in einem Chor, in der Schule, z.B. bei einer Musical-Aufführung – wie das bei Marysol der Fall war – oder wo anders …) und müsste uns eine Ausbildung ermöglichen, über Jahre hätten wir dann die Technik des Singens erlernt (mit allen dazugehörigen Krisen und der plötzlichen Erkenntnis, dass der Weg kein Ziel hat, dass das Lernen und Üben nie endet), wären dann von einem Haus engagiert worden, hätten vielleicht unseren Wohnort gewechselt, nicht nur die Stadt, vielleicht sogar das Land, um an diesem Haus zu arbeiten, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, Abend für Abend ein Publikum glücklich zu machen …
Dann käme das Haus mit lauter Partien – kleinen, großen, leichten, schwierigen, solchen, die man schon immer singen wollte und anderen, die man fürchtet … Das bedeutet, Texte zu memorieren, Noten zu lesen und sich zu erobern, Stücke zu studieren, dann sich mit einem Regieteam konfrontiert zu sehen, wochenlang eine Inszenierung zu erarbeiten, in der Probenarbeit abzutauchen, zu suchen, zu leiden, Meinungen von anderen zu ertragen, in ein Kostüm gesteckt zu werden, sich schminken zu lassen, auf eine Bühne zu gehen, mit großen und kleinen Requisiten zu kämpfen, – manchmal passieren einem auch noch ganz besonders seltsame Dinge: Man wird in ein Flugwerk geschnallt, mit Blut oder Wasser überschüttet, landet im Schlamm oder Schaum, über einem Abgrund, auf einer extremen Schräge. Es bedeutet, in blendendem Licht mit anderen Menschen oder allein vor Publikum einen Abend zu bestehen, wieder Meinungen von anderen zu ertragen, und das Tag für Tag.
Ich will gar nicht sprechen von den ganzen Widrigkeiten, die einem dabei begegnen können, vom kleinen Kratzen im Hals bis zu den wegen Corona abgesagten Vorstellungen, auch nicht von der strengen Disziplin, die es selbstverständlich verlangt, um rund um die Uhr sich und die Stimme fit zu halten. – Sie merken schon: Für mich sind sowieso die meisten Sänger:innen Wunderwesen und ich würde mit Freude den meisten von ihnen einen Preis verleihen. – Alles das absolviert Marysol mit Bravour, Eleganz und viel guter Laune, mit Einsatzbereitschaft und Optimismus.
Aber um das alles zu echter und berührender Kunst zu machen, die ein Gegenüber erreicht und etwas Bleibendes hinterlässt, gehört noch etwas ganz anderes: Und hier kommt die Magie ins Spiel und das hat mit Marysol zu tun: Ich kann selbst nicht vollständig erklären, nur erahnen, wie Marysol das macht: Die Noten und den Text und die Inszenierung und das alles eben nicht nur wiederzugeben, sondern alles zusammen sich einzuverleiben, es zu etwas eigenem zu machen, die Emotion in sich zu finden und zuzulassen – dabei trotzdem die nötige Distanz zu behalten – und sich vollkommen zu öffnen, so durchlässig zu werden, dass der kleinste Gedanke, dass innigste Gefühl für uns sichtbar und spürbar wird. So dass Marysol, wenn sie ganz in einer Rolle aufgeht, am Ende eben gleichzeitig auch ganz bei sich ist, um alles von sich zu geben und sich ganz und gar selbst auszudrücken. Und das berührt dann und fasst einen an, weil es durch und durch wahrhaftig ist.
Das kann Marysol und noch viel mehr: Sie kann alles sein. Sie ist immer anders und immer ganz sie selbst. Sie ist unendlich wandlungsfähig, kann jung sein, alt sein, das Geschlecht wechseln, auch ein Tier werden, sie ist ein Junge, eine femme fatale, eine Zauberin, ein Fuchs, Gilda, Pamina, Lulu, Susanna, Alcina, Jenny Hill, Gretel, Simplicius und vieles andere mehr, gefährlich, lustig, wild oder verzweifelt, zart, verletzt, in Liebe entbrannt. Und immer ist sie dabei ehrlich und immer spürt man ihre Intelligenz und ihren inneren Reichtum und fühlt sich von ihr mitgenommen und ihr ganz nah. Sie spielt gar nicht. Sie ist.
Mit ihr zu arbeiten, ist aber noch aus ganz anderen Gründen eine große Freude. Zu den Proben kommt sie meistens lachend, immer positiv, voll fröhlicher Erwartung, was ihr wohl widerfahren wird. Wie ein Kind ist sie dem Spiel ganz hingegeben, bereit, alles zu probieren. Wo andere Schwierigkeiten sehen, wischt sie diese bedenkenlos aus dem Weg. Lust- und temperamentvoll findet und erfindet sie, auf eine Art, die einen spüren lässt, dass „der Körper seinen eigenen Geist hat“ (wie Heiner Müller das in seinem Stück Quartett ausdrückt).
Dabei ist sie von einer schlafwandlerischen Sicherheit. Sie ist eine der wenigen Sänger:innen, um die ich nie Angst hatte oder habe auf der Bühne, egal ob sie im Simplicius akrobatisch aus einem meterhoch in der Wand befindlichen Loch hängt und im Schlaf fast fällt oder als Füchslein vom Jäger mit einem langen Seil gefesselt über eine 12%-Schräge rennt. Ihr Fuß weiß – wie bei einem Fuchs oder vielleicht eher einem Luchs – wo er hintreten muss, weil sie auf der Bühne ganz und gar zu Hause ist, mit Neugier die Grenze sucht und liebevoll auslotet, kontrolliert und angstfrei und sich von diesem untrügbaren Bühneninstinkt leiten lässt. Und bei all dem findet sie noch den Raum, den Menschen, die mit ihr auf der Bühne stehen, ganz zugewandt zu bleiben, wirklich mit ihnen zu spielen, diesen permanenten, so essentiellen Austausch von Energien zu betreiben, der das Theater erst leuchten lässt. Nie stellt sie sich selbst in den Mittelpunkt, immer geht es um das Ganze, um die Sache.
Sie arbeitet hart, aber es fühlt sich mit ihr eben nie nach Arbeit an, sondern immer nach sinnvoll gefüllter Lebenszeit, nach einem philosophischen Spiel, in dem man sich ganz aufgibt und gleichzeitig ganz zu sich selbst findet, einer gemeinsamen Suche oder Reise, auf der man die unglaublichsten Entdeckungen machen kann und von Marysol pausenlos beschenkt wird. … Wie oft habe ich von ihr am vermeintlichen Ende der Probe den Satz gehört: „Können wir das jetzt gleich noch einmal wiederholen?“
Sie ist eben in allem was sie tut eine große Liebende – und ich glaube, es ist genau diese Eigenschaft, für die Marysol heute den Kurt-Hübner-Preis verliehen bekommt. Denn dank dieser Eigenschaft lässt sie uns, wann immer sie auf der Bühne steht, unsere eigene Freiheit spüren – und das ist, wofür das Theater im Kern da ist – dass es in uns die Sehnsucht wiedererweckt nach diesem Wildsein und Freisein und Kindsein – damit wir ganze, erfüllte Menschen sein können, sehr naiv und sehr weise.
Liebe Marysol, von ganzem Herzen gratuliere ich Dir heute! Zum Glück geht die Reise weiter, und es warten noch viele große Abenteuer auf Dich! Lass mich nur ganz egoistisch hoffen, dass ich noch möglichst oft dabei sein darf …
Die Preisverleihung fand am 2. Juli 2022 im Kleinen Haus statt.