„Es ist gefährlich, wenn die Grenzen verschwimmen“

Die Autorin Ruth-Maria Thomas beschäftigt sich in ihren Texten immer wieder mit den Fallstricken weiblicher Sozialisation. Im Juli 2024 hat sie ihren Debütroman Die schönste Version veröffentlicht. Dramaturgin Sonja Szillinsky hat mit ihr gesprochen.

Sonja Szillinsky: In deinem Roman Die schönste Version, der dieses Jahr erschienen ist und für den Deutschen Buchpreis nominiert war, erzählst du die Geschichte von Jella und Yannick, die als hoffnungsvolle Liebesgeschichte beginnt. Doch irgendwann kippt etwas und Yannick wird gewalttätig. Was war der Anlass für dich, davon zu erzählen? 

Ruth-Maria Thomas: Ich bin Freundin von Freundinnen, Schwester von Schwestern und selbst als Frau sozialisiert aufgewachsen. Außerdem bin ich auch als Sozialarbeiterin so oft auf gesellschaftliche Missstände, Unrecht und die Grenzen des Systems gestoßen. Ich musste einfach darüber schreiben.

Der Roman spielt in den späten Nullerjahren in einer ostdeutschen Kleinstadt. Wie kam es zu der Verortung der Geschichte – räumlich und zeitlich? 

Ich wollte die Lausitz als selbstverständlichen Handlungsspielraum setzen. Dass der Roman in der Lausitz spielt, heißt natürlich auch, dass meine Figuren diese abgebaggerten Landschaften irgendwie mit im Rucksack rumtragen. Dass er in einer ostdeutschen Kleinstadt spielt, bedeutet auch, dass es die Nachwendegeneration ist und die Eltern diesen Umsturz miterlebt haben. Und dass er in einer Kleinstadt spielt und nicht in der Metropole, hat natürlich auch ganz eigene Themen, was Infrastruktur angeht, und ja, all das zusammen bildet quasi den Handlungsspielraum meines Romans. In den 2000ern gab es für diese diversen Formen von Gewalt kaum ein breites gesellschaftliches Bewusstsein, es wurde wenig darüber gesprochen. Die Geschichten von damals erstrecken sich aber trotzdem noch in die Gegenwart und müssen erzählt werden.

Welche Vorstellungen oder Bilder von partnerschaftlicher Gewalt sind deiner Ansicht nach in der Gesellschaft präsent, welche nicht? Welche Version wolltest du sichtbar machen?

Es heißt, im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Wer mehr liebt, liebt richtig. Extreme sind sexy. Man liebt nur richtig, wenn es wehtut. Ein bisschen Eifersucht tut der Beziehung gut. Wir wachsen mit diesen Glaubenssätzen auf, die sagen: Liebe muss intensiv sein. Und wenn es mal laut wird? Gilt das als leidenschaftlich. Doch was, wenn der Streit körperlich wird? Wenn die Worte Demütigungen werden? Ist das dann immer noch Leidenschaft – oder ist das Gewalt? Es ist gefährlich, wenn die Grenzen verschwimmen. Auch wenn das Bewusstsein für Gewalt gegen Frauen gerade wächst, stellt sich die Mehrheitsgesellschaft oft nicht klar hinter die Frauen. 

Du hast 2023 einen Band über weibliche Sozialisation mit dem Titel wie ich frau bin veröffentlicht, in dem auch die Konfrontation mit Gewalt Thema ist. Welche Rolle spielt das Szenario möglicher Gewalterfahrungen oder deren Prävention in der Erziehung von Mädchen?

Ich glaube, leider eine große, wenn man sich die Zahlen anschaut. Genau deshalb muss Täterprävention betrieben und fokussiert werden, muss von Anfang an über die Grenzen anderer gesprochen werden.

Du hast als Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe gearbeitet. Welche Erfahrungen aus dieser Arbeit ziehen sich in dein Schreiben hinein?

Wahrscheinlich habe ich vor allem durch das Studium der Sozialen Arbeit gelernt, andere Perspektiven als meine eigene einzunehmen. Lebensweltorientiert zu denken und Systeme zu verstehen. Das hilft natürlich beim Schreiben komplexer Beziehungsdynamiken. Als Sozialarbeiterin habe ich mich oft als Feuerlöscher gefühlt. Das war ein großes Gefühl der Ohnmacht. Es ist kaum auszuhalten, dass der Staat seinem Wächteramt so wenig nachkommt. Dass Geld fehlt, Gesetze nicht angepasst und umgesetzt werden.

 

 

Veröffentlicht am 22. November 2024