Georgien: zwischen Russland und Europa

Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ beschreibt nicht nur die Geschichte der Familie Jaschi, sondern auch den Zerfall der Sowjetunion. Zur Premiere bei uns im Theater am Goetheplatz ein kurzer Überblick von Osteuropa-Spezialistin Silvia Stöber.

„Manchmal mag sie es mit den Schicksalsschlägen übertreiben“, schrieb 2014 ein Rezensent des Spiegel zum Erscheinen des Romans Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili. Was aber aus mitteleuropäischer Perspektive wie ein überfrachteter Lebenslauf erscheinen mag, ist in einem Land wie Georgien durchaus realistisch, wurde es doch tief in den Strudel epochaler Ereignisse hineingezogen.

„Das achte Leben“ beginnt zu einer Zeit, als in Georgien und in der gesamten Region des Südkaukasus noch viele Völker nebeneinander lebten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch keine gefestigten Staaten, vielmehr unterlag der Südkaukasus einem Kampf der umliegenden Regionalmächte um die Vorherrschaft. Als Sieger erwies sich das russische Zarenreich. Dessen Truppen waren im 18. Jahrhundert in den Kaukasus vorgedrungen. Nach der Annexion Ostgeorgiens im 19. Jahrhundert übernahm es schrittweise die Kontrolle über den Kaukasus. Als nach der Oktoberrevolution 1918 das Zarenreich zerfiel, ergab sich eine kurze Zeit der Freiheit. Erstmals entstanden die demokratischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Doch blieb kaum Zeit zur Errichtung staatlicher Strukturen. Schon 1921 übernahm die bolschewistische Rote Armee die Kontrolle. Georgien wurde Teil der Sowjetunion und erlebte mit Industrialisierung, Urbanisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft einen gewaltigen Umschwung. Dann setzte Ende der 1930er Jahre der Große Terror ein. Neben Stalin war ein zweiter Georgier, Lawrenti Beria, für Tod, Folter und Verbannung von Millionen Menschen in der Sowjetunion verantwortlich.

Haratischwili nennt die beiden nur „Generalissimus“ und „Kleiner großer Mann“.

Auch der Zweite Weltkrieg war für Georgien opferreich: Von 750.000 Georgiern, die in den Krieg zogen, kehrten 300.000 nicht zurück. Nach dem Tod Stalins löste 1956 die Geheimrede seines Nachfolgers Nikita Chruschtschow zu den Verbrechen Stalins Proteste in Georgien aus. Sie richteten sich gegen die vermeintliche Verunglimpfung des Georgiers, waren aber auch ein Ventil für Unzufriedenheit mit der Sowjetunion. Auch 1978 gab es Proteste, diesmal gegen die Abschaffung von Georgisch als Staatssprache. Eduard Schewardnadse war es, der den Konflikt beilegte, Georgisch blieb erste Sprache. Die letzten Jahre der Sowjetunion waren in Georgien geprägt von Korruption, Schattenwirtschaft und dem Einfluss der „Diebe im Gesetz“. Die Bezeichnung steht für eine Subkultur der kriminellen Unterwelt und mafia-ähnliche Banden mit strengen Hierarchien und Ehrenkodex. Dank des Handels mit begehrten Waren wie Mandarinen, Zitronen und Aprikosen aus der Region gelangten im Tausch Autos und andere rare Produkte sowie Antiquitäten nach Georgien.

Viele sehnten die Unabhängigkeit herbei; dies umso offener, je schwächer sich die Zentralmacht in Moskau erwies.

Am 9. April 1989 gingen Tausende auf die Straße. Truppen des sowjetischen Innenministeriums lösten die Kundgebung mit brutaler Gewalt auf. 19 Menschen wurden getötet. Bis heute ist es ein wichtiger Gedenktag in Georgien. Als die Unabhängigkeit da war, wählten die Georgier:innen 1991 den Intellektuellen Swiad Gamsachurdia zum ersten Präsidenten. Doch seine sprunghafte, autoritäre und gegen nationale Minderheiten gerichtete Politik führte zu einer tiefen Spaltung der Gesellschaft und nach wenigen Monaten zu einem Bürgerkrieg und zum Krieg um Abchasien. Um dem Chaos ein Ende zu bereiten, wurde der ehemalige Republikchef und Ex-Außenminister der Sowjetunion, Eduard Schewardnadse, herbeigerufen. Er stabilisierte das Land. Aber es blieben Korruption, Polizisten als Wegelagerer auf den Straßen und Mangel an allem – auch an Licht, da ständig der Strom ausfiel.

Eine Wende kam erst mit der Rosenrevolution 2003, angeführt von Michail Saakaschwili.

Er verpasste dem Land einen enormen Modernisierungsschub. Zu dieser Zeit endet Das achte Leben. Es folgten erneut bittere Zeiten: 2008 der Krieg Russlands in Georgien, der in einer militärischen Niederlage Georgiens und der Vertreibung vieler Bewohner:innen endete. Russland erkannte die Gebiete Südossetien und Abchasien an und errichtete dort zahlreiche Militärbasen. 2012 sorgte der Oligarch Bidsina Iwanischwili für einen Machtwechsel. Statt des versprochenen Wohlstands brachte er aber Jahre des Stillstands. Offen ist, ob Georgien auf dem Pfad nach Europa bleibt oder erneut in den Einflussbereich Russlands sinkt.

 

Unsere Autorin:

Silvia Stöber ist seit mehr als 15 Jahren auf Osteuropa und vor allem den Südkaukasus spezialisiert. Sie arbeitet als freie Autorin für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Seit 2006 ist sie Redakteurin bei der ARD-Tagesschau, wo sie im Ressort Investigativ arbeitet.

 

 

Veröffentlicht am 2. Februar 2023