Vulven überall

Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Sanyal, geführt von der Dramaturgin Sonja Szillinsky.

Welche Bedeutung hat der 8. März für dich?

Mithu Sanyal: Es gibt zwei Tage im Jahr, die mir wichtig sind: Das ist der 8. März – der zurückgeht auf Clara Zetkin und die Forderung nach einem Wahlrecht für alle – und der 1. Mai. Ich bin an diesen Tagen jedes Jahr bei Veranstaltungen.

Welche Veränderungen hast du über die Jahre in Bezug auf den 8. März beobachtet?

Die Themen, um die es geht, haben sich verändert. Und das Bewusstsein, dass es einen 8. März gibt, hat zugenommen. Er ist in Berlin inzwischen sogar ein Feiertag, das ist natürlich toll. Ganz früher haben wir den Tag in kleinen linken, autonomen Zentren und feministischen Gruppen gefeiert und mit der Zeit wurde er immer breiter begangen. Anfang der Neunzigerjahre haben wir einen Frauenstreiktag veranstaltet und sind zum Beispiel ins Museum gegangen mit Plakaten, auf denen unterschiedliche Forderungen stand. „Ich will hier ein Werk von Jenny Holzer sehen“, hatte ich auf meines geschrieben. Vor ein paar Jahren – 30 Jahre später – gab es eine große Jenny-Holzer-Ausstellung in Düsseldorf, wo ich lebe. (lacht) Inzwischen kommt man am 8. März eigentlich nicht mehr vorbei.

Vor fünfzehn Jahren erschien dein Buch Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts, das für den feministischen Diskurs unglaublich wichtig war. Endlich gab es ein Buch über die Kulturgeschichte der Vulva. Inwiefern hat sich dein Blick auf den Diskurs seitdem verändert?

Seit der Publikation hat sich der Diskurs über Geschlecht gewandelt: Die Binarität wurde zunehmend in Frage gestellt. Als ich Vulva 2009 geschrieben habe, habe ich häufig noch „weibliches Geschlecht“ als Synonym dafür verwendet. Das ist natürlich falsch, weil nicht nur Frauen Vulven haben. Und das, obwohl ich selbst damit aufgewachsen bin, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt. In Indien gibt es seit Ewigkeiten drei Geschlechter. Bereits in dem zweitausend Jahre alten Epos Ramayana gibt es drei Geschlechter: Männer, Frauen und Hijras. Trotzdem war die Norm von zwei Geschlechtern damals in Deutschland so mächtig, dass ich dachte, niemand versteht mich sonst. Ich finde es befreiend, dass das in Deutschland jetzt so selbstverständlich hinterfragt wird. Und erschreckend, dass es harte Angriffe von Rechts dagegen gibt.

Welchen Effekt hatte dein Buch auf den Diskurs?

Ich habe Jahre gebraucht, bevor ich anfangen konnte zu schreiben, weil es damals nahezu kein Material zu meinem Thema gab. Der Begriff „Vulva“ war im Sprachgebrauch kaum verankert; Leute haben mich gefragt: „Vulva, ist das ein Fluss in Russland?“ Inzwischen ist das Wort Vulva viel etablierter. Es macht mich glücklich, wenn ich beispielsweise einen Zeitungsartikel lese, in dem der Begriff richtig verwendet wird. Häufig beziehen sich auch andere Autor:innen auf mein Buch.

Der feministische Comic Der Ursprung der Welt von Liv Strömquist basiert beispielsweise ganz explizit auf deinem Buch.

Ja, sie hat mich auch zitiert. Oder es gibt dieses schöne Buch I see Vulvas everywhere von Lisa Frischemeier. Das Buch ist voller Fotos, wie ich sie selbst immer in meinem Kopf ablege: Ich gehe durch die Welt, entdecke etwas und denke: Da ist eine Vulva, da ist noch eine und da auch. Es war immer mein Ziel, den Blick zu erweitern. Wenn ich Vorträge halte, dann will ich, dass die Leute danach rausgehen und in allen möglichen Dingen Vulven erkennen, weil vieles ja tatsächlich alte Symbole für die Vulva sind und wir nur gelernt haben, sie nicht wahrzunehmen; wohingegen wir Penisse überall sehen.

Wie wirkt es sich auf den Feminismus aus, dass sich das Verständnis von Geschlecht auch in der breiteren Wahrnehmung erweitert hat?

Zum einen hatte die Erkenntnis, dass Geschlecht konstruiert ist, sehr positive Auswirkungen: Ich hatte das Gefühl, dass wir endlich Essentialismen loslassen können und das hat neue Allianzen ermöglicht. Zugleich gab es leider auch einen harten Backlash, der durch die Hintertür reingekommen ist, nämlich im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt: Plötzlich galten trans* Frauen als potentielles Risiko. Das ist besonders tragisch, weil wir aus der Forschung wissen, dass Menschen, die nicht eindeutig geschlechtlich zuzuordnen sind, beispielsweise ein viel höheres Risiko haben, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden als cis Frauen. Bereits als Babys: Die fälschlich „geschlechtsangleichend“ genannten Operationen an Babys nehmen auch in Deutschland wieder zu. Dabei kann ich ein Baby gar nicht fragen, welches Geschlecht es hat.

In feministischen Diskursen haben intersektionale Fragen (wenn Menschen von unterschiedlichen Diskriminierungsformen gleichzeitig betroffen sind) zuletzt eine größere Aufmerksamkeit bekommen. Diskutiert wurde beispielsweise die Kritik, der deutsche Feminismus sei zu lange weiß gewesen.

Ja, aber es gab von Anfang an auch immer Gegenbewegungen. Ich habe das Gefühl, dass wir hier immer Wellenbewegungen beobachten können. Vor kurzem befanden wir uns auf einem Wellenkamm, und das war super, aber jetzt geht es gerade erschütternd bergab. Das liegt auch daran, wie diese Großraumdiskurse in Deutschland geführt werden, welche Themen in den Vordergrund gezogen werden – und wem unsere Empathie gilt. Man muss sich nur unsere „Feministische Außenpolitik“ anschauen, die bezog sich eindeutig nicht auf alle. Aber Gerechtigkeit ist nur Gerechtigkeit, wenn sie für alle gilt.

Auch in deinen Romanen spielen aktuelle Diskurse eine wichtige Rolle. Auffällig finde ich, dass du dabei eine große Offenheit behältst, dass ein Diskurs in all seinen Absurditäten und Härten abgebildet werden kann, ohne dass am Ende jemand „Recht hat“. Es bleiben viele Fragen offen.

Es ist meine Hoffnung, dass das gelingt. Ich habe zwei Anliegen beim Schreiben: Ich möchte unterhalten und ich möchte dass die Leser:innen etwas – Gedanken, Wissen, Erkenntnisse – mitnehmen. Der Roman ist ein besonderer Raum, sich mit Themen auseinanderzusetzen, weil er eine Vielstimmigkeit von Sichtweisen abbilden kann. Du kannst mithilfe eines Romans auch durch die Augen von Figuren blicken, mit deren Überzeugungen du nicht übereinstimmst. Das ist wunderbar. Bei der amerikanischen Ausgabe von Identitti hatte mich meine Verlegerin gebeten, das Ende umzuschreiben und zu sagen, wer Recht hat und wer nicht. Als ich darauf geantwortet habe, dass das gegen die Idee meines Textes gehe, bat sie mich, das zumindest in einem Nachwort zu erklären. Das kann ich nicht, habe ich gesagt, denn es geht in dem Roman ja nicht darum, herauszufinden, wer Recht hat. Was bringt uns das? Denn auch die Menschen, die „nicht Recht haben“, haben ja Gründe für ihr Verhalten und verschwinden nicht plötzlich aus der Welt. Und auch wenn sie „Recht“ hätten, hätten ihre Handlungen ja trotzdem Konsequenzen. Mich interessiert mehr, wie meine Charaktere mit diesen Konsequenzen umgehen.

Hält der deutsche Diskurs denn mehr Ambivalenz aus?

Eine ganze Weile habe ich das gedacht. Im Moment sind wir aber dabei, Ambivalenzen als gefährlich oder als Zeichen von falschem Denken wahrzunehmen. Das ist problematisch, weil es eine Gefährdung von Demokratie ist. Die Art und Weise, wie wir Politik machen, ist eben genauso wichtig wie die Inhalte, um die es geht.

In deinem letzten Roman, Antichristie, gibt es das Motiv der Reise in die Vergangenheit. Welche Gedanken beschäftigen dich in Hinblick auf die Zukunft?

Die Beobachtung, dass wir die Fähigkeit des Futurings verlieren, war einer der Gründe für das Schreiben des Romans: Dass uns die Möglichkeit, eine positive Zukunft zu imaginieren, fehlt, weil wir das Gefühl haben, übermorgen geht die Welt sowieso unter. Aber wenn wir eines über die Zukunft wissen, dann, dass sie kommen wird. Deshalb ist es wichtig, dass wir sie mitgestalten. Dafür müssen wir sie uns vorstellen können. Und dann darüber verhandeln, dafür brennen und sie genau durch diesen Akt erschaffen.

Veröffentlicht am 8. März 2025.