„Große Gefühle wollen raus.“
Alize Zandwijk, Leitende Regisseurin im Schauspiel, im Gespräch mit Brigitte Heusinger, Leitender Dramaturgin im Musiktheater: über Proben, Intuition und Publikumslieblinge. Und übers Vermissen.
Brigitte Heusinger: Michael Börgerding hat dich 2012 hier an das Theater geholt.
Alize Zandwijk: Als Michael in Bremen Intendant wurde, hat er sich gewünscht, dass ich jede Spielzeit mindestens eine Inszenierung mache. Am besten mit vielen Menschen, mit Musik, im Theater am Goetheplatz. Er wusste, dass ich keine großen Mittel scheue.
Zuvor warst du achtzehn Jahre im RO Theater in Rotterdam, zehn Jahre davon hast du das Haus als Chefin geleitet. Du warst vernetzt, hattest Expertise, hast erfolgreich gastiert. Dennoch hast du dich 2016 noch enger an das Theater Bremen gebunden und wurdest Leitende Regisseurin im Schauspiel. Warum?
Ich finde die Menschen hier super toll. An anderen Theatern herrscht Konkurrenz, das gibt es hier nicht. Das Bremer Ensemble kann sehr gut miteinander sein, miteinander singen, gemeinsam etwas erzählen auf der Bühne. Es ist ein Ensemble mit nicht so vielen großen Egos und trotzdem starken, sehr eigenen Persönlichkeiten und vielen Fähigkeiten, die über das reine Schauspiel hinausgehen. Ein sehr eigenes Ensemble. Das hat auch mit Michael Börgerding zu tun.
Wenn man dich fragt, was du mit deinen Inszenierungen erzählen willst, sagst du immer: „vor allem die Geschichte“.
Ja, ich möchte, dass verstanden wird, worum es geht. In La Bohème ging es uns um Armut. Daher wollte ich eine Welt zeigen, in der die Menschen kein Geld haben, frieren und nicht viel zu essen haben. Und Solange wir leben handelt von zwei Menschen, die sehr viel mitgemacht haben und auf die der Leitsatz „Leben ist nicht nur Glück, sondern auch Leiden“ zutrifft – wie auf viele andere Menschen auch.
Dir geht es um die Geschichte, aber immer lauert auch ein soziales Anliegen dahinter.
Theater muss Verständnis für Menschen, die Leid oder Ungerechtigkeit ertragen müssen, erzeugen. Ich glaube, wir müssen gerade über politische wie menschliche Krisen reden und auch über Krieg. Und am schönsten ist, wenn man direkt etwas – wenn auch sehr Kleines – tun kann, wie in Bohème mit unserer Zusammenarbeit mit der Bremer Tafel.
Dir ist es wichtig, gemeinsam mit den Darsteller:innen tief in die Themen zu gehen.
Erstmal versuche ich, ein Klima zu schaffen. Ein Klima zum proben und ein Klima für das Stück. Dann braucht es Zeit, die Emotionen durch den Körper gehen zu lassen. Wir verbringen viel Zeit mit den Figuren. Wir verbringen viel Zeit mit dem Stoff. Und so können wir im Probenprozess viel durcheinanderwirbeln, weil jede, jeder weiß, wer sie oder er ist und worum es uns allen geht.
Proben sind bei dir eher ein kollektiver Prozess?
Ja, ich probe eigentlich fast immer mit dem ganzen Ensemble. Einzelproben sind bei mir sehr selten. Und ich probe ja nicht nur die einzelnen Szenen, sondern auch die Übergänge der Szenen, Leerstellen, die ungeheuer wichtig sind und die ungeheuer sprechend sein können.
Manchmal komponierst du mit und neben den Szenen Bilder, die sich direkt erschließen und die auf nichtsprachliche Art und Weise kommunizieren.
Manchmal kann das Hin- und Herrücken von Stühlen mehr erzählen als ein Monolog.
Oder das exzessive Bettbeziehen von Shirin Eissa in Solange wir leben; ein theatraler Vorgang, der sich mir eingegraben hat. Wie ließe sich besser zeigen, dass eine Frau permanent auf Trab gehalten wird und völlig überfordert von der Pflegearbeit ist, während ein sich schämender Mann daneben sitzt. Hier wird ein realistischer Vorgang durch die beständige Wiederholung zu einer Metapher für ein Frauenleben. Du arbeitest auch viel mit Musik oder Bühnenbildideen, die assoziative Räume aufmachen wie beispielsweise ein Bühnenboden, der mit Bohnen bedeckt ist. Bei dir schneit es auch gerne, auch gerne in geschlossenen Räumen. Wie kommst du zu diesen Bildern?
Auf die Bildideen komme ich vor allem durch den Austausch mit den Bühnenbildner:innen. Ich sehe viele, viele Filme und ich schaue mir Bilder an, die mich nicht mehr loslassen. Einmal habe ich in einer Zeitung ein Foto eines Denkmals für den unbekannten Soldaten in Brüssel gesehen, auf dem ein ewiges Licht brennt. Und auf dieser Flamme hat sich ein Obdachloser ein Spiegelei gebraten. Dieses Bild hat mich nicht losgelassen. Ich fand es großartig. Aber was ich wirklich sehr, sehr liebe, sind Körper. Wie Körper und Menschen miteinander auf der Bühne stehen und wie sich miteinander verhalten. Wenn in Solange wir leben sich Nadine Geyersbach ihren Kopf im Waschbecken wäscht, Lieke Hoppe das Klavier putzt, Martin Baum auch sauber macht, Guido Gallmann und Paul Schröder gleichzeitig trinken und Shirin Eissa mal wieder das Bett bezieht. Alle tun etwas nebeneinander, alle machen ihre Dinge auf verschiedene Weise und doch zusammen. Und der Fokus wechselt, von den Haupt- zu den Nebenstimmen, von vorne nach hinten, von links nach rechts und zurück. Und es wird eine Stimmung kreiert. Das ist für mich das Tollste am Theater.
Wie inszenierst du?
Ich weiß eigentlich immer sofort, was ich mag und was ich nicht mag. Aber ich sage selten „das ist nicht gut“, nein, die Schauspieler:innen finden ihre Rollen eigentlich selber. Das ist für mich gut, weil das Reservoir an Fantasie, an Gefühlen, an Authentizität viel größer ist. Und ich bewege mich einfach mit. Ich folge und schaue zu. Und korrigiere räumlich und sage so was wie „Geh doch noch mal ein Stück nach rechts“. Oder frage Matti Weber nach Musik, die es an dieser Stelle vielleicht geben müsste. Das mache ich alles sehr intuitiv.
Deine Inszenierungen erreichen die Menschen. Was glaubst du, ist der Grund dafür?
Weil ich die Geschichten ernst nehme und Gefühle nicht scheue.
Wie schaffst du es, dass auch deine Schauspieler:innen Gefühle nicht scheuen? Mir läuft es immer noch eiskalt den Rücken runter, wenn ich an die Abtreibungsszene in Das achte Leben denke.
Ich mache Regie ohne großen Abstand. Man muss dem Schmerz Raum geben, ihn aushalten, ihm nicht ausweichen. Und doch ist es oft gut, die Trauer in ein Lied, in einen Tanz übergehen zu lassen. Große Gefühle wollen nicht in einem gefangen bleiben, große Gefühle wollen raus. Bei den Darstellenden wie beim Publikum.
Du bist ja gerade Quotenqueen. Bohème und Solange wir leben waren oft ausverkauft und Das achte Leben findet auch in der dritten Spielzeit noch Zuschauer:innen.
Ja, das finde ich sehr beruhigend und schön, dass insgesamt so viel Publikum kommt. Es war mit Michael Börgerdings Tod ein schwieriges Jahr.
Du warst eng mit ihm befreundet, bist oft nach den Proben zum Reden zu ihm ins Büro gegangen.
Ja, ich vermisse seine Seele, seinen Glauben an das Theater, ja, seine Freundschaft zu mir natürlich, sein Menschsein, ja, sein Glücklichsein auch. Er konnte so glücklich sein, wenn eine Vorstellung gelungen war und konnte super sauer sein, wenn er eine Kritik als ungerecht empfand. Obwohl er so zurückhaltend war, hat er immer alles in diesem Haus extrem mitgelebt. Er war immer hoch emotionalisiert, ohne dass er mit seinen Emotionen andere Menschen irgendwie beeinträchtigt hätte. Michael hat an das Theater geglaubt, geglaubt, dass man mit Theater etwas verändern kann. Und jetzt versuchen wir alle in seinem Geist weiter zu machen. Und das Publikum folgt uns. Wir versuchen beieinander zu bleiben. Wir versuchen offen zu bleiben. Das ist unser Auftrag. Und die Menschen kommen. Das ist doch sehr schön!
Veröffentlicht am 13. Juni 2025.