Handlungshemmung.

Ein Lob des Zauderns / Auf die Zunge beißen von Michael Börgerding.

„Ungeheures ist viel,
doch nichts ungeheurer als der Mensch.“

„Handlungshemmung“ hat als Begriff keinen guten Leumund. Meist kennt man es als Zuschreibung depressiver Zustände oder als eigenes, bisweilen peinliches Gefühl in ungewohnten neuen Situationen. In der Soziologie hingegen nennt man die Zwischenphase zwischen Handlungsimpuls und Handlungsvollzug mit dem amerikanischen Philosophen und Verhaltenspsychologen George Herbert Mead „Handlungshemmung“, daran erinnerte in der letzten Woche der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi auf den Geisteswissenschaften-Seiten der FAZ. Mead erklärt den Prozess der Handlungshemmung als eine Zwischenphase, in der erst Reflexion und Bewusstsein entstehen – ein Moment, der impulsives Handeln verhindert. 

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann würde diese Überlegungen als einen wesentlichen Mechanismus ansehen, der es sozialen Systemen überhaupt ermöglicht, mit ihrer Komplexität umzugehen. Soziale Systeme basieren auf Kommunikation, und die Verzögerung zwischen Impuls und Handlung – der bewusste Einschub von Reflexion – ist es, die die Stabilität sozialer Ordnungen gewährleistet. Wenn Nassehi von Hemmung als Grundlage für zivilisierte Zustände spricht, greift Luhmann auf einen Prozess zurück, der für die Funktionsweise von Gesellschaften unerlässlich ist.

Alexander Kluge hat über Antigone einmal geschrieben, dass sie – eine eigensinnige Person des alten Adels – ausschließlich nur auf das eigene Urteil vertraue. Und deswegen den Friedensbringer, den Vermittler Kreon („ein besonnener Herrscher, der lediglich so tut, als verfüge er außerdem über Brutalität, nur deshalb, weil die Volksmeinung gewalttätige Durchsetzungskraft zu den Attributen eines Herrschers zählt“), beratungsresistent dazu bringt, seinen guten Plan mit Gewalt gegen das alte Recht durchzusetzen. Wäre Antigone nicht ihren Impulsen gefolgt, einem Moment der Handlungshemmung zugelassen, also der womöglich abgesprochenen heimlichen Wegschaffung des Angreifers Polyneikes zugestimmt, „der Bruder wäre gewiss, verabredungsgemäß, später beerdigt worden“ – so Kluge. Aber auch Kreon folgt seinen eigenen Impulsen, er wird Antigone verhaften lassen und sie in einer Grabkammer lebendig einmauern. Der eigene Sohn wird ihr in den Tod folgen, in die gleiche Grabkammer. „So sieht der ohnmächtige Herrscher auf Theben hin: der Ruhm über die Jahrtausende gehört von nun an der schrulligen Prinzessin, die altes Recht gegen den Versuch des neuen verteidigt.“

Im Programmheft zu unserer Lohengrin-Inszenierung lese ich einen Text von Ulrich Bröckling: „Krisenzeiten steigern den Heldenbedarf, aber Heldenkonjunkturen erzeugen auch Krisenbedarf. Heroen operieren im Modus permanenter Mobilmachung und brauchen den Notstand wie die Polizei das Verbrechen. Ohne Feinde ringsum, ohne allerorts lauernde Gefahren haben sie keine Gelegenheit, sich als Retter zu präsentieren. Die Schrecken, die sie zu bannen versprechen, sind die Quellen ihrer Autorität.“ Handlungshemmung: vermutlich ein Fremdwort für den erträumten Heilsbringer Lohengrin wie für das Volk von Brabant, das seinem „Führer“ folgt in den Untergang. „Die letzten Worte des Chors sind ‚Weh‘ und ‚Ach‘ – übereinander komponiert. Erst danach folgt noch einmal in Dur, wie eine Mahnung, das Gralsmotiv. Es ist ein furchtbar bitteres Ende“, sagt Frank Hilbrich, der Regisseur des Abends.

Verhaltenslehren der Kälte: Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren geprägt durch Erfahrungen von Destabilisierung, sozialer Desorganisation und Diffusion der vertrauten Abgrenzungen, Rollen und Fronten. Nicht überraschend das Interesse unserer Zeit an diesen Jahren. In einer „Republik ohne Gebrauchsanweisung“ (Alfred Döblin) arbeiteten Intellektuelle, Literaten an einer Polemik gegen die „Gewissenskultur“, man wollte sich die „ungeheure Komplikation der verschuldeten Person“ (Walter Benjamin) vom Hals schaffen: „ein Revolver und kein Gewissen, aber Geschmack“ schreibt der junge Brecht in sein Tagebuch. Die soziale Angst wird umgesetzt in kalte Inszenierung. Das Leben ist zu inszenieren und Situationen sind zu entscheiden. Nur so könne die radikale Modernisierung und das radikale Tempo dieser Veränderungen mit all seinen Anforderungen an das bürgerliche Subjekt ausgehalten werden. Training eines funktionalen Ichs. So wie im Kino die äußere Handlung interessiert: der Mensch als Objekt der Zuschauer und „ein Publikum von lauter Reflexologen“ (Brecht). Die neuen Konditionierungen werden ausdrücklich begrüßt. Reflexe statt Reflexionen, Impulse statt Hemmungen, Handlung statt Zaudern.

Brechts Städtebewohner, Benjamins destruktiver Charakter, Serners Hochstapler (die Helden meiner Jugend, meines Studiums), aber auch Jüngers Arbeiter oder Schmitts Souverän waren Rückgriffe auf ein unterkomplexes Subjekt mit Zügen vorbürgerlicher Subjektkonstituierung: nur darin sahen sie eine Möglichkeit den Beschleunigungsprozess zu ertragen. Die andere ästhetische Option, die hochgradig komplexen Persönlichkeiten in den Romanen von Thomas Mann, Robert Musil oder Hugo von Hofmannsthal, hatte einen großen Nachteil: sie waren nicht entscheidungsfähig. Diese „Helden“, Hans Castorp auf dem Zauberberg oder Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, schauten lieber aus der Ferne zu. Es waren heroische Zeiten, in denen nicht nur Brecht fühlte, dachte und schrieb. „Natura facit saltus“, die Welt macht Sprünge, schrieb Brecht in seiner Anmerkung zu der Oper Mahagonny. Carl Schmitt dachte über den Ausnahmezustand nach und wer über ihn entscheiden dürfe. Und nicht nur Walter Benjamin empfand den Ausnahmezustand als die Regel. Männliche Helden lebten im chronischen Alarmzustand und sie erfanden das Duell-Subjekt: „Distuinguo, ergo sum“, ich unterscheide mich, also bin ich. 

Was damals künstlerische Avantgarde war, scheint heute wieder im rechten Denken neu auf. Oder mit Karl Marx: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Björn Höcke, Jürgen Elsässer, Götz Kubitschek, Günter Maschke und andere. Und die Jugend wählt im Osten AfD.

Aber Enthemmungen sind nicht nur rechts zu finden. Armin Nassehi schreibt: „Man könnte sagen: Hemmungen sind die Basis für zivilisiertes Verhalten, wenn man darunter versteht, nicht einfach Impulsen zu folgen, sondern vorsorglich Hindernisse einzubauen, die den nächsten Schritt relativieren und geradezu gegenständlich machen. Zivilisiertes Verhalten erkennt man dann auch daran, nicht alles unmittelbar zu sagen, was einem unmittelbar in den Kopf kommt. Sieht man sich die Diskussion um migrations-, asyl- und strafrechtliche Konsequenzen aus den schrecklichen Morden in Solingen an, scheint es auf unterschiedlichsten Ebenen zu Enthemmungen zu kommen.“

Ich will hier nicht all die Überbietungen und Enthemmungen in der bürgerlichen Mitte, in der Bundesregierung wie der Opposition aufführen. Sie gehorchen einer Logik, die kein Drittes zulässt, kein Zaudern, kein Innehalten. Es zählt die große Geste der Tat. Und nicht das von Nassehi erwähnte „rule of law“. Das Rechtssystem nämlich institutionalisiert Handlungshemmungen, indem es impulsive, unreflektierte Handlungen in geregelte Bahnen lenkt. Grundrechte, Asylrecht, Genfer Konvention, Europäisches Recht. „Von Mead kann man lernen“, schreibt Nassehi, „dass es ohne den bewussten Einbau von Handlungshemmungen nicht geht und dass das Nachplappern vermeintlicher Lösungen nur kurzfristige Entlastung bieten wird.“ 

Bisweilen hilft ein Blick von außen und die eine oder andere einfache Frage. Die deutsche Schriftstellerin Fatma Aydemir hat im britischen Guardian eine Kolumne und schreibt: „Was Faeser als Strategie zur Verhinderung islamistischer Angriffe bezeichnet, erscheint eher wie ein weiterer verzweifelter Versuch, Wähler von der extremen Rechten zurückzugewinnen, indem sie genau das tut, was die AfD tun würde. Als ob der islamistische Extremismus durch mehr Beschränkungen gegenüber Flüchtlingen bekämpft werden könnte, von denen viele gerade deshalb aus ihren Ländern fliehen mussten, weil sie sich weigerten, der islamistischen Ideologie zu gehorchen.“

Das Theater ist kein Ort der Handlung. Sondern der Probehandlung. Wir probieren etwas aus, um zu sehen, ob es in der Wirklichkeit Sinn macht oder zu Katastrophen führt. Ein Ort der Handlungshemmung – bei aller Dramatik, Konfliktzuspitzung oder Tragik. Und – wenn ich mir etwas wünschen könnte – ein Ort, in dem gemeinsam über Lösungen nachgedacht wird. In dem wir Lohengrin und Antigone spielen und untersuchen. Und viele andere Stoffe, Stücke und Vorlagen. Sie sind herzlich dazu eingeladen.

 

 

Veröffentlicht am 11. September 2024