Handlungsspielräume

Gregor Runge, künstlerischer Co-Leiter der Tanzsparte am Theater Bremen, im Gespräch mit Gyuri Szabó, Künstlerischer Leiter von Trafó House of Contemporary Arts Budapest über den aktuellen Stand der unabhängigen Darstellenden Kunst in Ungarn.

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Gregor Runge: Im vergangenen November organisierte Tráfo in Zusammenarbeit mit vielen anderen Partnern die sechste Ausgabe der dunaPart-Plattform für zeitgenössische darstellende Kunst. Die Plattform präsentierte über zwanzig Arbeiten unabhängiger ungarischer Künstler:innen und Ensembles, sowohl Produktionen aufstrebender als auch etablierter Akteur:innen der Szene wurden gezeigt. Während dieser vier Tage hatte ich den Eindruck, dass der progressive Sektor trotz des anhaltenden Drucks durch die Politik von Viktor Orbán und der Fidesz-Partei noch immer sehr lebendig ist.

Gyuri Szabó: Ja, die Szene ist lebendig. Allerdings scheint die ältere Generation von Künstler:innen aufgrund von COVID und dem Rückgang der Fördermittel im Moment etwas an den Rand gedrängt zu werden. Ich hätte ihnen vielleicht etwas mehr Platz im Programm der Plattform eingeräumt, aber für die diesjährige Ausgabe von dunaPart hatten wir beschlossen, den kuratorischen Prozess an eine jüngere Generation weiterzugeben. Das Programm war also wirklich neu und interessant, es enthielt mehrere Werke, die ich noch nicht gesehen hatte. Ich muss betonen, dass die vorgestellten Produktionen in den letzten zwei Jahren entstanden sind und aus einer künstlerischen Gemeinschaft stammen, die seither kontinuierlich geschrumpft ist, während die Produktionen selbst aufgrund mangelnder Finanzierung immer kleiner werden. Und es ist interessant zu sehen, dass die meisten Aufführungen aus den Bereichen Tanz und Performance kommen, weniger aus der Theaterwelt. Das ist eine signifikante Tendenz, denn mit immer weniger Geld ist es immer noch möglich, kleine Tanz- und Performance-Arbeiten zu schaffen, während es für das Theater viel schwieriger ist, unter den gegebenen Umständen kontinuierlich zu produzieren. Außerdem spielt der Tanz in der Freien Szene in Budapest seit jeher eine lebendige Rolle. Die Budapester Akademie für Zeitgenössischen Tanz, die jetzt ihren Betrieb einstellen musste, hat viele frische zeitgenössische Ideen in den Sektor eingebracht, da sie auch sehr stark in den internationalen Sektor eingebunden war. Der Theatersektor hingegen schien immer ein wenig traditioneller zu sein. Und seit die Theater- und Filmhochschule mit Akteur:innen der nationalen Regierung besetzt ist, hat sich diese Tendenz weiter manifestiert.

Als wir 2016 begannen, die unabhängige ungarische Tanzszene zu entdecken und Zusammenarbeiten zwischen Unusual Symptoms und ungarischen Tanzkünstler:innen wie Máté Mészáros und Adrienn Hód zu initiieren, fühlte es sich an, als sei die lokale Szene in großer Solidarität miteinander verbunden und von einem rebellischen Geist beseelt, der zu einer immens kreativen Atmosphäre führte. Seitdem hat Fidesz die staatliche Kulturförderung für unabhängige Künstler:innen nahezu zum Erliegen gebracht. Wie gehen die Künstler:innen selbst damit um?

Der Handlungsspielraum wird durch die ständigen finanziellen Kürzungen immer kleiner. Also verlassen die Künstler:innen das Land, und die, die bleiben, machen entweder kleinere Produktionen oder sie verlassen die Freie Szene. Einige fangen an, in der Filmindustrie zu arbeiten, andere konzentrieren sich auf andere Jobs, was bedeutet, dass die Aktivität des unabhängigen Sektors zurückgeht. Einige versuchen, internationale Koproduktionspartner zu finden, was hier und da auf Skepsis stößt, da die Leute der Meinung sind, dass wir die lokale Szene stärken müssen. Es gibt eine ältere Generation von Künstler:innen, die in der Freien Szene begann, berühmt wurde und nun bessere Chancen hat, außerhalb Ungarns Kontakte zu knüpfen. Aber es gibt auch eine junge Generation, die voller Energie ist, und natürlich fühlen sie sich im Moment an den Rand gedrängt. Das führt auch zu einer Spaltung in der Branche.

Was bedeutet das für die veränderte Rolle eines Produktionshauses wie Trafó?

Trafó hat nur ein Probestudio, das von der Workshop Foundation verwaltet wird, einer Initiative zur Unterstützung lokaler Künstler:innen. Trafó war schon immer ein Ort, der der lokalen Kunstszene diente und gleichzeitig ein internationales Profil mit Koproduktionen pflegte. Als Ungarn der Europäischen Union beitrat, konnten die Ungar:innen Gelder aus dem Creative Europe Fund beantragen, was ungarischen Institutionen und Künstler:innen den Anschluss an verschiedene europäische Netzwerke ermöglichte. Eine neue Art von Institutionen begann zu entstehen oder sich weiterzuentwickeln, vor allem Produktionszentren für Tanz. Die Workshop Foundation ist eine von ihnen, SÍN Arts eine andere. Diese Institutionen haben dazu beigetragen, den unabhängigen Sektor weiter zu formen, aber natürlich leiden auch sie unter der rückläufigen Finanzierungssituation in Ungarn. Trafó selbst löst sich daher mehr und mehr von unserer früheren Position als solider Koproduzent auf internationaler Ebene. Stattdessen unterstützen wir viele, oft lokale Produktionen mit kleinen Kofinanzierungsbeiträgen. Das bedeutet, dass sich unser Profil verändert, es gibt eine Verlagerung von der internationalen Programmgestaltung hin zum Dienst an der lokalen Gemeinschaft. Es wird interessant sein, wie das neue Direktorinnenteam diese Situation ab 2025 angehen wird.

Wie wichtig sind in dieser Situation Netzwerke, was kann die internationale Solidarität leisten?

Um ehrlich zu sein, habe ich da zwiespältige Gefühle. Die Probleme, mit denen wir hier konfrontiert sind, treten auch in anderen Ländern auf. Mir ist klar, dass viele Kolleg:innen im Westen zunehmend damit beschäftigt sind, ihre eigenen Probleme zu lösen, und nicht genug Zeit oder Geld haben, um sich mit den noch stärker marginalisierten Sektoren wie dem unseren zu befassen. Die Abwanderung von Fachkräften aus Ungarn wird jetzt sehr stark. Vor allem für die kleineren Organisationen ist die Vernetzung von entscheidender Bedeutung, damit sie sich selbst erhalten können. Bei den Künstler:innen gibt es einen Unterschied zwischen denen, die an internationalen Kooperationen beteiligt sind, und denen, die lokal verwurzelt sind, deren Arbeit innerhalb der Grenzen Ungarns bleibt, weil sie sich selbst dort sehen, die wirklich lokal arbeiten wollen.

Du hast Trafó mitbegründet und bist seit seiner Eröffnung 1998 künstlerischer Leiter. Im nächsten Jahr wird mit Katalin Erdödi und Judit Böröcz eine neue Generation die Leitung übernehmen. Was erwartest du von diesem Wechsel in kritischen Zeiten, was wünscht du dir für sie?

Meine Antwort ist einfach: Ich hoffe, dass sie neue Energie, eine neue Vision und eine neue Haltung mitbringen werden. Was wir hier bei Trafó seit 1998 machen, ist mehr oder weniger dasselbe, mit einem starken Fokus auf die Produktion und einer expansiven Vision, die versucht, ein großes Publikum zu erreichen. Die politische Situation und der Wandel in den Medien haben diese Strategie an ihre Grenzen gebracht. Daher denke ich, dass Katalin und Judit überdenken müssen, was Trafó sein kann, das Haus in eine andere Richtung lenken müssen. Am wichtigsten ist für mich, dass dieser Ort lebendig bleibt, dass das Leben innerhalb dieser Mauern weitergeht. Game Changer, das Werk, das ihr jetzt in Bremen zeigt, ist eine sehr gute Wahl. Denn dort sieht man die ältere Generation von Macher:innen und die Fragezeichen, die sie haben. Was ist Kunst? Wie kann ich innovativ sein? Jetzt, wo eine junge Generation heranwächst, was wird mit uns geschehen? Was wird von uns und der Kunst, die wir machen, erwartet? Das Stück spielt mit diesen Fragen auf witzige und zugleich provokante Weise und setzt ein großes Fragezeichen hinter die gegenwärtigen und künftigen Perspektiven dieser Künstler:innen.

 

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Maneuvering spaces

Gregor Runge, artistic co-director of the dance department at Theater Bremen, in conversation with Gyuri Szabó, artistic director of Trafó House of Contemporary Arts Budapest about the current state of the independent Hungarian performing arts scene.

Gregor Runge: Last November, Tráfo in collaboration with many other partners organized the sixth edition of the dunaPart Platform of Contemporary Performing Arts, showcasing more than 20 works of the independent Hungarian artists and companies, upcoming as well as long established players of the scene. Following the programme of these four packed days, I got the impression that despite the ongoing struggle the progressive sector is facing due to the politics of Viktor Orbán and the Fidesz party, it is still very much alive.

Gyuri Szabó: Yes, it is vibrant. Though due to COVID and the decline in funding, the older generation of artists seems to be a bit marginalized at the moment. I might have given them a bit more space in the platform’s program, but for this year’s edition of dunaPart we had decided to pass the curatorial process on to a younger generation. So the program was really new and interesting, it included several works that I had not seen yet. I have to underline that the productions being presented have been created within the last two years, coming from an artistic community that has been continuously shrinking since then, with productions itself becoming smaller and smaller due to a lack of funding. And it is interesting to see that the majority of performances were coming from the fields of dance and performance art, less from the theater world. That’s a significant tendency, as with less and less money, it is still possible to create small dance and performance works, whereas for theater it is much harder to continuously produce under the given circumstances. Also, dance has been playing a vibrant role in the independent scene in Budapest ever since. The Budapest Contemporary Dance Academy, which now had to stop operations, has been bringing a lot of fresh contemporary ideas into the sector, as it was very much embedded in the international sector as well. Whereas the theater sector seemed to always be a bit more traditional. And since the theater and film academy has been occupied by cultural agents of the national government, this tendency has further manifested itself.

When we started discovering the independent Hungarian dance scene around 2016, initiating collaborations between Unusual Symptoms and Hungarian dance artists like Máté Mészáros and Adrienn Hód, the local scene felt to us like being connected in great solidarity, forming a rebellious spirit which lead to an immensely creative atmosphere. Since then, Fidesz has brought national cultural funding for independent artists almost to a halt. How are the artists themselves dealing with that?

The maneuvering space is getting smaller and smaller due to the ongoing financial cuts. So artists start leaving the country, and the one who stay either are doing smaller productions or they leave the independent field. Some start working in the movie industry, others are focusing on day jobs, so it means the activity of the independent sector is declining. Some are trying to find international coproduction partners, but there is a certain skepticism to that, as people feel we need to do something locally. There is an older generation of artists, who started to work in the independent scene, became famous and have better chances to connect outside of Hungary. But there is a young generation as well, full of energy, and of course they feel pushed to the side at the moment. This creates division in the field as well.

What does that mean for the changing role of a production house like Trafó?

Trafó has only one rehearsal studio, which is managed by the Workshop Foundation, an initiative to support local artists. Trafó has always been a place to serve the local arts community, while maintaining an international profile of co-productions. When Hungary entered the European Union, Hungarians could apply for money at the Creative Europe Fund, which made Hungarian institutions and artists able to connect to different European networks. A new kind of institutions started to rise or further develop from that, mostly production centers for dance. Workshop Foundation is one of them, SÍN Arts another. These institutions helped shaping the independent sector further, but of course they are also suffering from the declining funding situation in Hungary. So Trafó itself is more and more moving out from our former position of being a solid co-producer on international scale. Instead, we support many, often local productions with small co-financing contributions. So it means our profile is changing, there is a shift from international programming to be in service of the local community. It will be interesting how the new team of directors will approach this situation from 2025 on.

In this situation, how important are networks, what can international solidarity do?

To be honest, I have ambiguous feelings there. The issues we are facing here are happening in other countries as well. I realize that many colleagues in the West are increasingly busy with solving problems of their own, not having enough time or money to deal with the even more marginalized sectors like ours. The brain drain from Hungary is getting very strong now. Especially for the smaller organization, networking is crucial for them to maintain themselves. Looking at the artists, there is a difference between those who are involved in international collaborations and those, who are locally rooted, whose work stays within the borders of Hungary because they actually see themselves there, who really want to work locally.

You have been co-founding Trafó and been its artistic director since its opening in 1998. Next year, with Katalin Erdödi and Judit Böröcz a new generation will take over the directorship. What do you expect from this change in critical times, what would you wish for them?

My answer is simple – I hope they will bring new energy, a new vision, a new stance with them. What we have been doing here at Trafó since 1998 is more or less the same, with a strong focus on production and an expansive vision trying to reach people and a large public. The political situation and the change in the media has brought this strategy to limits. So I think Katalin and Judit will have to rethink what Trafó can be, move it towards a different direction. What is most important for me is that this place stays alive, that life goes on within its walls. Game Changer, the work that you will now present in Bremen, is a very good choice. Because there you see the older generation of makers, and the question marks they have. What is art? How can I be progressive? Now that a young generation is approaching, what will happen to us? What is expected from us and the art we’ve been doing? The piece plays with these questions, in a funny yet provocative way, placing a big question mark on these artists’ present as well as future perspectives.

 

 

Veröffentlicht am 30. März 2024