Hauen und Stechen: Kitesh

Musiktheaterdramaturgin Brigitte Heusinger spricht mit „Kitesh“-Regisseurin Franziska Kronfoth und Kostüm- und Bühnenbildnerin Christina Schmitt über ein Projekt, das durch das Weltgeschehen eine andere Dimension bekommen hat.

In den Wäldern von Vetluzh, inmitten eines Dickichts, gibt es einen stillen See. Nur ab und an sieht man leichte Wellen, die sich kräuseln. Wenn man dann die Ohren spitzt, hört man aus der Tiefe einen langgezogenen Gesang und weit entfernte Glocken klingen. Hier ist die glorreiche Stadt Kitesh untergegangen, die mit ihren sechs Kuppeln vor dem See stand, bis die goldene Horde der Tartaren kam, um die Stadt zu erobern. Die Tartaren waren erstaunt. In Kitesh wurden keine Befestigungen gebaut, es wurde sich nicht verteidigt, es wurde gebetet. Und plötzlich brachen Wasserfontänen aus dem Boden, das Wasser kam und kam und Kitesh versank in der Flut wie einst die mythische Stadt Atlantis. Diese altrussische Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh ist der Stoff der letzten Oper von Nikolai Rimski-Korsakow (1844–1908) und erinnert an die Herausbildung der russischen Nation im Kampf gegen die Tartaren – und an die Kraft spendende Bedeutung des orthodoxen Glaubens als „Abwehrzauber“ gegen die grausamen Reiterheere aus dem asiatischen Raum.

Das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen hat vor drei Jahren begonnen, im Rahmen der Kooperation NOperas, Stoff wie Musik zum Ausgangspunkt einer Überschreibung zu machen.

Bearbeitete Teile des Originals treffen auf neukomponierte Musik von Alexander Chernyshkov, Elemente der Volksmusik und Popkultur werden in das Idiom zeitgenössischer Musik integriert. Im Oktober 2020 fand an der Oper Halle die Uraufführung dieser raumgreifenden Inszenierung statt, die auch außerhalb des Theaters spielt. Die Stadt Kitesh ist in Bremen im See hinter der Kunsthalle versunken, die Jurte der Tartaren steht auf dem Goetheplatz, in den Foyers erlebt man unterschiedliche Auseinandersetzungsformen mit Spiritualität: im Partisanenunterschlupf, in der Kapelle, als Glaube, der im Musizieren aufgehoben ist, als Glaube daran, für die richtige Sache zu arbeiten – wie in einer kleinen Stadt.

In Bremen sollte das Konzept lediglich ausgefeilt, angepasst, doch nicht verändert werden, aber die Welt hatte sich verändert.

Ja, was tun? Diese Frage stellt sich gerade für ein Kollektiv, das über ein Innenblick verfügt, da es mehrere russische bzw. ukrainische Mitglieder hat, die in den vergangenen Monaten ganz praktische Probleme hatten: die Ausreise ihrer Verwandten aus ukrainischen, weißrussischen und russischen Gebieten zu organisieren, Wohnungen zu finden, etc. Während in der Oper eine russische Stadt angegriffen wird, gibt es weltgeschichtlich gerade die spiegelbildliche Situation, Russland greift ein anderes Land an. „Man denkt unwillkürlich an die Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, man denkt an die Menschen, die in der Ukraine kämpfen und das ist auch wichtig. Trotzdem ist der Ukraine-Konflikt ungleich komplexer als der in der Opernhandlung sehr stereotyp dargestellte Überfall der Tartaren, eines völlig fremden Volkes – die Geschichte Russlands und der Ukraine sind tief miteinander verwoben. Insofern ist die Parallele zwischen der Oper und dem Krieg in der Ukraine auch gefährlich, vor allem, wenn man auf Frieden hofft. Das ist für uns ein Dilemma. Wir sind als künstlerisches Team in einer schwierigen Lage, aber wir haben uns entschieden, nah an der Geschichte zu bleiben, sie sich entfalten zu lassen, und gleichzeitig versuchen wir, uns offen zu halten für die Bezüge und wach und sensibel auf sie zu reagieren“, beschreibt Regisseurin Franziska Kronfoth ihre Situation. „Unser ursprünglicher Zugang zum Stoff war eine andere Frage, nämlich was Glaube und Spiritualität in der heutigen Welt noch bewirken können.“ Beabsichtigt war keine zeitliche, konkrete Verortung, sondern die Darstellung eines überzeitlichen Konflikts: „Dieser Fokus hat sich jetzt verändert.“

 „Die Fahne, die gestern rot war, wird in der Aufführung weiß sein, eine Friedensfahne.“

Auf visueller Ebene findet hingegen schon eine Verortung statt, sagt Christina Schmitt, die für das Kostüm- und Bühnenbild verantwortlich ist: „Natürlich beschäftige ich mich, wenn ich ein russisches Stück mache, mit der russischen Bildsprache.“ Aber durch die veränderte Situation wird es gegenüber der Inszenierung in Halle schon Änderungen geben. „Für die Statisten in Halle gab es Uniformen, deren Musterung sich an einer sowjetischen avantgardistischen Theatertruppe orientierte. Diese Kostüme haben wir rausgenommen“, führt Christina Schmitt aus. „Was aber meine Ausstattung bei ‚Kitesh‘ angeht, lebt diese vielmehr vom Gegensatz von naturhaften, von der Landart beeinflussten Elementen im Außenraum, mit Wundern und spirituell zu deutenden Zeichen, während auf der Bühne eine gewisse Kühle herrschen soll, die Spiegelung des Nichts, ein Gedankenraum.“

 

NOperas! - eine Initiative des Fonds Experimentelles Musiktheater (FeXm). In gemeinsamer Trägerschaft von Kunststiftung NRW und NRW KULTURsekretariat, in Kooperation mit Oper Halle und Theater Bremen. 

Veröffentlichung: 1.7.22