I love people´s faces

Alexander Giesche fährt Straßenbahn. Pressesprecherin Diana König durfte ihn begleiten. Mit Kae Tempest, der Linie 2 und der Frage nach der Möglichkeit, verbunden zu sein durch Bremen.

Er kommt immer mit der Straßenbahn. Die tägliche Übung: dabei keine Musik hören, versuchen, den anderen Menschen ins Gesicht zu schauen. Sein Lieblingsplatz ist die Bank ganz hinten, wir setzen uns. Hinter uns die Schienen, vor uns eine ganze Bahn voller Menschen. „Well, here we are, dancing in the rumbling dark / So come a little closer, give me something to grasp / Give me your beautiful, crumbling heart“. Im ersten Lockdown hat Alexander Giesche angefangen, Kae Tempests Song People’s Faces im Loop zu hören. Und zu denken, dass es auf eine berührende Art etwas Verbindendendes hat, dass andere sich dieselben Fragen stellen, unter derselben Schlaflosigkeit leiden, wie er. „When you were lying in your bed and couldn’t sleep / Thinking, ‚Couldn’t we be doing this differently?‘“. „Das ist der Satz, der am meisten in mir resoniert“, sagt Giesche, „wir wissen doch alles. Wir haben doch verstanden, dass wir alle Konsumenten sind und weiter konsumieren müssen, damit das System nicht zusammenbricht und damit essen wir unseren Planeten auf. Ich bin mal gespannt, ob unsere Kinder uns das verzeihen.“ „And this age is our age / But our age is rage sinking to beige / And yes, our children are brave / But their mission is vague“. Die Tram hält, eine Frau steigt ein. Sie hält ein Joghurt und einen Flachmann in der Hand und redet laut mit sich selbst. „Man tendiert ja dazu, sich abzuschotten, aber Straßenbahnfahren ist für mich während dieser Proben zu einer Aufgabe geworden.“

Das tägliche Verbundensein-Training.

„I stare out at my city on another difficult day / And I scream inwardly, ‚When will this change?‘ / I’m beginning to fade / But my sanity’s saved ‚cause I can see your faces“. Immer wieder Urlaubsgefühl, wenn die Tram über den Marktplatz fährt, am Roland vorbei. Geht der Blick aber zur anderen Seite, zum Fuß des Rathauses: Provisorisch eingerichtete Schlafstellen für Wohnungslose, hastig zusammengehaltenes, weniges Hab und Gut. „Wir können den Kapitalismus ja nicht besiegen“, Giesche schaut raus, „ich komme mir vor, als würden wir von einer Krise in die andere schlittern, vielleicht ist unser ganzes Leben eine Krise, wir löschen einen Brand nach dem anderen.“ Eine junge Frau schaut zu uns rüber, überlegt vielleicht, ob Giesche die Welt retten wird oder eine Midlifecrisis hat. „Eigentlich hatten wir mit dem Stück schon Premiere“, sagt Giesche, „Nadine Geyersbach und ich sind gemeinsam Straßenbahn gefahren, Nadine ist den ganzen Text durchgegangen. Man hat gemerkt, wie das mit den Menschen um uns herum was gemacht hat, die haben angefangen, zu fliegen. Das war Wahnsinn.“

Da war er, der kleine Moment des Verbundenseins.

Der Moment, in dem man etwas gemeinsam hat, etwas gemeinsam fühlt. Schön, wenn so etwas entsteht, Kunst kann das, Theater kann das, „Nadine, die Theatermagierin, kann das“. Der kleine Moment Freiheit, der kleine Moment der gestillten Sehnsucht. „None of this was written in stone / There is nothing we’re forbidden to know / And I can feel things changing / Even when I’m weak and I’m breaking / I’ll stand weeping at the train station / ´Cause I can see your faces / There is so much peace to be found in people’s faces“. Ob er auch findet, dass es dieses Verbundensein gibt zwischen Menschen, dass man es tatsächlich erspüren kann, etwa wenn man selbst nur noch einen Scherbenhaufen in sich hat und es dann etwas tröstliches hat, dass das Leben für andere weitergeht, frage ich. „Doch.“ Und ob es ihm gleichzeitig aber auch Angst macht, den Menschen hier in der Straßenbahn zu begegnen, sich wirklich anzusehen? „Doch.“ Auf dem Boden der Tram liegt ein kleines Tütchen mit Gras. „I’m all spirit, but I’m sinking“. Ein kleiner Junge fährt mit seinem Spielzeugauto über die Rückenlehne. „Ich denke, es geht nur in dieser Dialektik. Das eine gibt es wahrscheinlich ohne das andere nicht“.

Die Straßenbahn rumpelt um die Ecke, gleich sind wir da.

„Wenn ich mit der Tram zur Probe komme und am Theater aussteige, dann frage ich mich jedes Mal, wenn ich die Menschen ansehe: Empfindest du das genauso? Und ich denke, das ist es, was ich mit dem Stück will: Ich will keine Antworten geben, keine Moralpredigt halten, ich will einen guten Theater-Abend machen, und denen, die sich eine andere Welt vorstellen können, Mut machen, das zu tun. ‚Sei nicht so hart zu dir selbst‘, sagt Kae. Und ich baue gerade den Spielplatz für die Vorstellung dieser anderen Welt.“

 

 

Veröffentlicht am 24. April 2023