„I wish this piece could make people who feel or look like me feel less alone.“
Gregor Runge, künstlerischer Co-Leiter der Tanzsparte am Theater Bremen, im Gespräch mit dem brasilianischen Choreografen Renan Martins anlässlich seines Gastspiels Hélio bei Vier Tage Tanz.
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Renan, du hast Hélio in Erinnerung an deinen Großvater kreiert. Wer war Hélio Martins de Souza?
Hélio war mein Großvater mütterlicherseits. Soweit ich mich erinnere, war er der erste Mensch, den ich jemals tanzen sah. Er stammte aus eher armen Verhältnissen und arbeitete in einer Coca-Cola-Fabrik, aber neben seinem Beruf war er Standardtänzer und Tanzlehrer. Außerdem liebte er Samba und die gesamte Samba-Kultur. Als ich meine eigene künstlerische Laufbahn begann, war er derjenige, der mich zu meinen Theaterkursen brachte, mir dabei zusah und mich danach zu Theateraufführungen mitnahm. Ich werde meine eigenen künstlerischen Anfänge immer mit ihm in Verbindung bringen und wollte ihm mit diesem Solo eine Hommage erweisen. Allerdings ist das Stück eher eine Widmung an ihn als eine Arbeit über ihn. Hélio ist vor 18 Jahren gestorben, genau in dem Moment, als ich nach Europa kam, um Tanz zu studieren. Er hat mich leider nie auf der Bühne tanzen sehen.
Deine Erfahrungen als brasilianischer Tänzer und Choreograf in Europa sind ein weiterer wichtiger Bezugspunkt des Stücks.
Ich stamme aus einer Familie, in der bei Feiern jeglicher Art die ganze Nacht getanzt wurde, von den Kindern bis zu den Alten. Ich wuchs in einem Vorort von Rio de Janeiro auf und war tief in die lokale Kultur eingebettet. Daher kam ich mit allen Arten von Volkstänzen in Berührung. Als ich mein Tanzstudium in Europa begann, gab es plötzlich keinen Platz mehr für diese Tänze. Ich musste mich in Ballett und postmodernen Tanz einfügen, in europäische Traditionen, die sich anfühlten, als wären sie nicht für meinen Körper gemacht. Hélio entstand auch aus dem Bedürfnis heraus, all diese Arten, wie ich performt und getanzt habe, zu überdenken, zu hinterfragen und sie in einen Dialog mit dem zu bringen, was ich bereits wusste, bevor ich nach Europa kam.
In deinen jüngsten Arbeiten hast du dich viel mit Fragen der Gemeinschaft und kollektiven Praktiken beschäftigt. Was hat es für dich bedeutet, ein Solo für dich selbst zu kreieren?
Ich fühlte mich irgendwie erschöpft von der Arbeit mit Gruppen. Ich dachte mir: OK, ich habe ein paar Dinge mit anderen Leuten gemacht, vielleicht muss ich einfach mal eine Weile mit mir selbst sein. Ich war neugierig, ob es etwas gab, das nur ich tun konnte, etwas, das nicht von anderen Menschen verstanden und auf andere Körper übertragen werden konnte. Ich wollte die Verantwortung für meine eigene Reise übernehmen. In Hélio gebe ich tiefe Einblicke in mein Innerstes, spreche über meine Unsicherheiten, meinen Körper, meine Ängste vor dem, was Leute denken, das ich tun sollte – statt der Dinge, die ich tatsächlich tue. Ich wünschte, dieses Stück könnte dazu beitragen, dass sich Menschen, die sich wie ich fühlen oder aussehen, weniger allein fühlen. Oder dass es andere, die an einer Art Normativität festhalten, dazu bringt, aus ihrer Box herauszutreten und zu erkennen, dass es auch andere Wege des Seins, andere Wege des Tanzens gibt. In diesem Sinne gibt es einen starken Bezug zur Gemeinschaft. Selbst bei einem Solo gibt es immer auch einen kollektiven Körper, den ich anspreche. Das Solo ist eine Erkundung meines persönlichen Archivs. Es beginnt bei meinem Großvater, geht über meine Mutter, meinen Vater, über Tänze, die ich mit meinen Cousins geübt habe, und über Aufgaben, die ich mit Choreograf:innen wie Meg Stuart oder Anne Teresa de Keersmaeker gelöst habe. In manchen Momenten kann ich mich sogar an einen Kollegen erinnern, der neben mir tanzt. Obwohl ich also allein tanze, habe ich das Gefühl, dass viele andere Menschen mit mir auf der Bühne stehen.
Wie hängen diese biografischen Bezugspunkte mit Drumming zusammen, einer Komposition von Steve Reich, die in Hélio ebenfalls eine recht prominente Rolle spielt?
Ich hatte den großen Traum, Tänzer in Anne Teresa de Keersmaekers Kompanie Rosas zu werden. Deshalb habe ich an ihrer Schule P.A.R.T.S. in Brüssel Tanz studiert. Es gibt ein Stück von ihr, Drumming, das mich jedes Mal tief berührt hat, wenn ich es gesehen habe. Das Stück ist wie eine große kollektive Bewegung durch den Raum. Irgendwann verließ jemand das Ensemble und Anne Teresa sagte mir, dass ich in die Produktion einsteigen könnte und sie anrufen sollte, um ein Treffen zu vereinbaren. Ich rief an, sie nahm nicht ab. Ich schrieb ihr, sie antwortete nicht. Plötzlich gab es ein privates Vortanzen, an dem ich teilnahm. Aber ich bekam die Stelle nicht, was sehr verwirrend war. Irgendwann fragte ich mich, ob es eigentlich das Tanzstück war, das ich so sehr liebte oder die Musik. Also fing ich an, mir die Musik anzuhören und mich zu fragen, wie ich eigentlich dazu tanzen würde. Warum konnte ich nicht selbst mit minimalistischer zeitgenössischer Musik arbeiten? Könnte ich die Erinnerungen der Leute an das Rosas-Tanzstück hacken und eine neue Version erstellen? Könnte mein immigrierter Körper of colour die Tanzgeschichte neu schreiben? Wer darf überhaupt Geschichte schreiben? Als ich mich damit befasste, wurde mir klar, dass nicht nur das Tanzstück, sondern auch das Musikstück viele problematische Aspekte enthielt. Steve Reich komponierte es nach einem sehr kurzen Besuch in Afrika, und viele westliche Musikwissenschaftler halten es für eines der größten Meisterwerke der Minimal Music. Leute, die sich mit afrikanischer Perkussionsmusik auskennen, würden allerdings sagen, dass es eine eher schlechte und oberflächliche Interpretation dieser Musik ist. Es gibt also eine Menge Spannungen in diesen Themen, und damit wollte ich arbeiten.
Derzeit arbeitest du an Diamonds, deiner ersten Kreation mit Unusual Symptoms am Theater Bremen, die im April Premiere haben wird. Kannst du uns schon einen kleinen Einblick in den Prozess geben?
Bis jetzt war es ziemlich faszinierend. Es ist eine Herausforderung, auf eine gute Art und Weise, in ein so großes heterogenes Kollektiv einzutreten und zu versuchen, es zusammenzubringen. Wir durchlaufen viele verschiedene Versuche, uns zu verbinden und in Beziehung zu treten, manchmal rau, manchmal angenehm und sanft. Es ist ein sehr lebendiger Prozess. Ich bin gespannt, wie die Tänzer:innen auf mein Solo reagieren werden. Bei der Arbeit an Diamonds ging es uns bislang vor allem darum, einen Raum zu schaffen, in dem wir gemeinsam etwas durchmachen konnten. Und ich denke, es wird für sie interessant sein zu sehen, wie ich mir diesen Raum nehme und mein Ding mache, indem ich aus meinem Herzen spreche. Da wir im Studio so sehr an der physischen Beziehung zueinander arbeiten, bin ich mir nicht sicher, ob sie im Solo viel von Diamonds sehen werden. Aber sie werden Erschöpfung, Wiederholung, Katharsis sehen – Elemente, die ich für unser gemeinsames Stück auch mit ihnen finden möchte.
--- English version ---
Gregor Runge, artistic co-director of the dance department at Theater Bremen, in conversation with Brazilian choreographer Renan Martins on the occasion on his performance Hélio at Vier Tage Tanz.
Renan, you have created Hélio in memory of your grandfather. Who was Hélio Martins de Souza?
Hélio was my maternal grandfather. As far as I remember, he was the very first person I ever saw dancing. He was coming from a rather poor, low-class background, working at a Coca-Cola Factory, but beside that job he was a ballroom dancer and dance teacher. He was also a lover of Samba and the whole Samba culture. When I started my personal artistic journey taking theater classes in Brazil, he was the person that would always bring me there, watch my studies and then take me to see theater plays after. I will always connect my own artistic beginnings to him and I wanted to pay homage to that. Though this piece is more of a dedication than actually being about him. Hélio sadly passed away just when I arrived in Europe to study dance about 18 years ago. He actually never got to see me dance on stage.
Your experience as a Brazilian dance artist in Europe is another important reference point of the piece.
I grew up with a lot of dance, coming from a family where at celebrations of any kind everyone would dance the whole night, from kids to the elderly. Growing up in the suburbs of Rio de Janeiro, being deeply embedded in the local culture, I was in touch with all kinds of folk dances. When I started my dance studies in Europe, there was suddenly no space for these dances anymore. I had to fit into ballet and postmodern dance, into European traditions that felt like they were not made for my body. Creating this solo piece came from a necessity to rethink or question all these ways that I’ve been performing and dancing, bringing it into dialogue with the things I actually knew before coming to Europe.
In your recent work, you have dealt a lot with questions of community and collective practices. What did it mean for you to create a solo for yourself?
I felt somehow exhausted by doing group pieces. I was like OK, I’ve done a few things with other people, maybe I just need to be with myself for a while. I was curious if there was something which only I could do, something which could not be understood by other people, translated to other bodies. I wanted to take ownership of my own journey. In Hélio, I am exposing myself, talking about insecurities, my body, my fears of what people think I should be doing instead of the things I am actually doing. I wish this piece could make people who feel or look like me feel less alone. Or that it makes others who are holding some kind of normativity step out of their box and realize there’s other ways of being, other ways of dancing too. In that sense, there is a strong relation to community. Even with a solo work, there is always a collective body I am addressing as well. The solo is an exploration of my personal archive. It starts with my grandfather, passes through my mum, my father, through dances I practiced with my cousins and tasks I did with choreographers like Meg Stuart or Anne Teresa de Keersmaeker. In some moments, I can even remember a colleague that is dancing next to me. So even though I dance alone, it feels like there are a lot of other people on stage with me.
How do these biographical points of reference connect to Drumming, a composition by Steve Reich which plays a quite prominent role in Hélio as well?
I had this big dream of becoming a dancer in Anne Teresa de Keersmaekers company Rosas. That’s why I actually studied dance at her school P.A.R.T.S. in Brussels. There was this piece of hers called Drumming. Watching it, it always touched me deeply. It’s like a big collective movement, a lot of dancing and moving through space together. One day, someone was leaving the company and Anne Teresa told me that I could join the piece and should call her to arrange a meeting. I called, she never picked up. I wrote to her, she never answered. Suddenly, there was a private audition, which I joined, but I didn’t get the position, which was very confusing. At some point I asked myself if it was the dance piece or actually the music that I loved so much. So I started listening to the music, asking myself how I would actually dance to it. Why couldn’t I work with minimalist contemporary music myself? Could I hack people’s memories of the Rosas dance piece and make a new version? Could my immigrant body of color rewrite dance history? Who gets to write history anyways? Once I got into it, I realized there were a lot of problematic things not only about the dance piece but about the piece of music as well. Steve Reich composed it after a very short visit to Africa and for many Western musicologists it is one of the biggest minimalist music masterpieces ever created. People who actually know about African percussion music would say that it is a rather poor interpretation of what that music is though. So yeah, there is a lot of tension in these themes, and I really wanted to work with that.
You are currently working on Diamonds, your first creation with Unusual Symptoms at Theater Bremen, which will premiere in April. Can you give us a little insight into the process yet?
So far, it's been quite fascinating. Challenging, in a good way, to step into such a big heterogeneous collective and trying to make it come together. We are travelling through a lot of different attempts of connecting and relating, sometimes rough, sometimes pleasant and soft. It’s a very vibrant process. I am curious how the dancers will react to my solo. Working with them on Diamonds so far has been a lot about providing space for us to go through something together, so I guess it will be interesting for them to see just me taking this space and do my thing with it, speaking from my heart. As we are so much working on physically relating to each other in the studio, I am not sure if they will see a lot of Diamonds in what I am doing by myself. But they will see exhaustion, repetition, catharsis – elements I want to find with them as well.
Veröffentlicht am 28. März 2024