Ich bin kein Fachidiot

Ein vor der Theaterschließung geführtes Gespräch mit Sänger Christian-Andreas Engelhardt von Brigitte Heusinger

Der Kloiber ist die Bibel des Musiktheaters – ein Nachschlagewerk für alle Fragen rund um Handlungen der Opern, das Libretto, den historischen Hintergrund, die stilistische Stellung, die Größe von Partien und eben die Stimmfächer. 

Kleine Stimmkunde zur Interviewvorbereitung ...

Zu lesen im Abschnitt über Besetzungsfragen: „Die elementare Nomenklatur der Singstimmen – Sopran, Alt, Tenor und Bass – mit ihren Zwischenstufen Mezzosopran bei den Frauen- und Bariton bei den Männerstimmen – charakterisiert lediglich die Stimmlagen. Für die Bühnenpraxis erfahren die einzelnen Stimmlagen eine Aufspaltung (…), die man als Fächer bezeichnet.“ Hier folgt dann eine Aufsplitterung in das „seriöse Fach“ und „das Spiel-und Charakterfach“.  Und unter diesen beiden Hauptkategorien finden sich dann in allen Stimmlagen noch Unterkategorien – einige davon werden Sie im Folgenden kennenlernen. Das klingt kompliziert und ist es auch. Denn zudem gibt es zwischen den Fächern auch Überschneidungen. Und eigentlich ist es ein Kontinuum, an dessen einem Ende die schweren Wagnerstimmen stehen und am anderen die ganz leichten Spieltenöre oder bei den Frauen die Soubretten oder lyrischen Koloratursoprane. Die Zugehörigkeit eines Sängers, einer Sängerin zu einem Fach wandelt sich meist auch im Leben, in der Regel wird man/frau „schwerer, dramatischer, seriöser“. 

In kleinen und mittleren Häusern kann man nicht ganz streng nach Fach besetzen,  in den Verträgen stehen nur die Stimmlagen (also Sopran, Mezzosopran, Tenor etc.).  So kommt es durchaus vor, dass eine lyrische Stimme eine dramatische Partie übernimmt, also eine leichtere, bewegliche Stimme eine Rolle singt, die eigentlich mehr Volumen braucht – verkürzt gesagt.
Aber so wild wie wir es mit Christian-Andreas Engelhard diese Spielzeit treiben, tut man es in der Regel nicht. Entschuldigend sei gesagt, dass es einvernehmlich passiert ist und Christian-Andreas Engelhardt eben auch über eine Stimme verfügt, die einiges zulässt. Und es ihm durchaus auch Spaß macht, in Stimmnachbarns Garten zu wildern. Und so dient unser kleines Gespräch auch dazu, das würdigend zu erwähnen, was nicht die Regel ist.    

Partie Nr 1.: Faninal in Der Rosenkavalier von Richard Strauss
Kloiber: „Herr von Faninal, ein reicher Neugeadelter: Heldenbariton, auch Charakterbariton, große Partie“

In deinem Vertrag steht Tenor. Wie kommt nun das?

Christian-Andreas Engelhardt: Ja, das ging vor sechs Jahren los, als Benedikt von Peter in seiner Verzweiflung – es hatten wohl schon eine Unzahl Baritone vorgesungen – einem Rat von Kapellmeister Clemens Heil folgte und mich fragte, ob ich den Beckmesser singen könne (Kloiber: „Sixtus Beckmesser, Stadtschreiber: Charakterbariton, auch Spielbass, große Partie“). Es ging. Und es ging dann auch in Wagners Parsifal der Klingsor (Kloiber: „Klingsor, Heldenbariton, auch Charakterbariton, mittlere Partie“). Faninal steht in dieser Tradition, ist allerdings meine bisher tiefste Partie.

Benutzt du deine Stimmen in den Baritonpartien anders?

Christian-Andreas Engelhardt: Ich muss von vornherein an einen tiefen Sitz denken. Wenn ich z. B. den Florestan in Beethovens Fidelio (Kloiber: „Florestan, ein Gefangener: Jugendlicher Heldentenor, auch Heldentenor, große Partie“) singe wie letzte Spielzeit, dann weiß ich, dass ich mein gesamtes Instrument einsetzen, aber stark auf die Obertöne gehen muss. Bei Baritonpartien muss ich diese Obertöne rausnehmen. Und das tue ich, indem ich bestimmte Klangräume nicht nutze und andere dafür aufmache. 

Was heißt das ganz konkret?

Christian-Andreas Engelhardt: Für eine Baritonpartie muss ich Raum im Rachen öffnen und aus dem Rachen heraus singen, dabei Brust und Bauch als Fundament nutzen, um die Stimme abzudunkeln. Die Stirnhöhlen, die ich für die Höhe öffnen muss, braucht es hier nicht. Beim Bariton geht der ganze Stimmklang eigentlich erst ab der Nase abwärts los. Und je klarer und weiter vorne an den Zähnen man singt, umso mehr Obertöne sind zu hören. Je weiter man den Stimmsitz nach hinten verlegt, also zu den hinteren Zähnen, dem Kiefer, umso dunkler und voluminöser klingt es.

Und kannst du mühelos von einer Baritonpartie zu einer Tenorpartie wechseln?

Christian-Andreas Engelhardt: Bei Baritonpartien muss ich abends ein großes C haben, damit ich mir sicher sein kann, dass ich sie singen kann. Wenn ich abends ein großes C habe und müsste den Dr. Cajus in Verdis Falstaff singen (Kloiber:  Dr. Cajus: Charaktertenor, mittlere Partie“), würde das nicht gehen. Der Zugriff der Stimme ist einfach zu dick und würde die Leichtigkeit für das Buffoneske nicht schaffen. Nach dem Cajus oder anderen hohen Partien brauche ich einen Tag, um meine Stimme runterzubringen.

Wie machst du das?

Christian-Andreas Engelhardt: Einfach die Klappe halten. Je mehr die Stimme entspannt, desto tiefer wird sie.

Das heißt, wenig üben, wenn tief, viel üben, wenn hoch?

Christian-Andreas Engelhardt: Im Prinzip ja. 

Partie Nr. 2: Hérisson de Porc-Epic in Das Horoskop des Königs von Emmanuel Chabrier
(Kloiber: keine Angabe, das Werk ist eine Rarität und nicht gelistet, Wikipedia hält die Partie für einen „Tenor-Buffo“, Christian für einen „Heldentenor“, ich eher für einen „Charaktertenor“. Da sieht man mal, wie schwierig diese Einteilungen sind.)

Christian-Andreas Engelhardt: Eine Partie, in der Yoel Gamzou es klug gemacht hat, mir in den Ensembles die tiefe Tenorstimme zu geben, für mich also entspanntes Singen.  

Partie Nr. 3. und Nr. 4: Monostatos und Erster Geharnischter in Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart
(Kloiber: „Monostatos: Spieltenor, auch Charaktertenor, mittlere Partie; Erster geharnischter Mann: Heldentenor, auch Charaktertenor, kleine Partie“)

Christian-Andreas Engelhardt: Dass ich beide Partien an einem Abend singe, liegt an einem Zufall. Der Kollege, der den Geharnischten gesungen hat, war krank, und so wurde ich gefragt, ob ich ausnahmsweise mal beide Rollen mache. Ich hatte ein bisschen Angst, ob ich den Umzug vom Geharnischten zu Monostatos schaffe. Es klappte, und so wurde die Ausnahme zur Regel. Der Geharnischte ist mein eigentliches Fach. Monostatos kann ich nur machen, weil ich Dirigenten habe, die wissen, dass sie die Arie nicht zu schnell nehmen dürfen. Ab einem gewissen Tempo ist der Zugriff für meine Stimme nicht mehr machbar. Sag es nicht weiter, aber ich muss gestehen, dass ich mich für Die Zauberflöte nicht einsinge. Ich gehe ins Theater, trinke eine Tasse Kaffee und lege los: „Feines Täubchen nur herein …“

Gib zu, du singst dich mit dem Monostatos für den Geharnischten ein.

Christian-Andreas Engelhardt: So ist es. 

Und du hast sogar schon zweimal in der Vergangenheit den Tamino gegeben.

Christian-Andreas Engelhardt: Ja, die drei Tenöre der Zauberflöte hab ich durch, jetzt könnte ich mich eigentlich mal den anderen Stimmen widmen – nein, Spaß beiseite, aber irgendwann möchte ich mal einen Abend machen, an dem ich fast alle Rollen der Zauberflöte alleine bestreite.

Partie Nr. 5: Kaufmann in Jakob Lenz von Wolfgang Rihm
(Kloiber: „Kaufmann: Spieltenor auch Charaktertenor, mittlere Partie“)

Christian-Andreas Engelhardt: Ich singe den Kaufmann wie ein Heldentenor, eigentlich ist er aber für eine sehr hohe, bewegliche lyrische Stimme geschrieben. Ich richte mir die Partie halt ein, aber ich muss schon Abstriche machen bei der Präzision. 

Klingt nach ein wenig Fronarbeit.

Christian-Andreas Engelhardt: Nein, ich genieße es jedes Mal mit Claudio Otelli und Christoph Heinrich auf der Szene zu sein und durch deren immense Energie angestoßen zu werden. Hier reagiert ein Kollege anders, jetzt muss ich anders abbiegen. Es ist wie Pingpongspielen.

Partie Nr. 6: Dr. Cajus in Falstaff von Giuseppe Verdi
(Kloiber: „Dr. Cajus: Charaktertenor, mittlere Partie“)

Christian-Andreas Engelhardt (stöhnend): Solange ich solistisch singe, ist es kein Problem, da kann ich mit voller Stimme singen. Aber in den Ensembles, also dann, wenn mehrere Menschen singen, wird es für mich heikel. Der Cajus muss sehr leicht und schnell gesungen sein und fast metallisch klingen. Das ist in meiner Lage schwierig. Wenn ich aber falsettiere, also die Kopfstimme benutze, bin ich zu leise und nicht mehr zu hören. Eine Gratwanderung.

Wie bereitest du dich vor? 

Christian-Andreas Engelhardt: Ich fange morgens nach dem Aufstehen an, die Partie durchzusingen. 

Partie Nr. 7: Stewa in Jenůfa von Leoš Janáček
(Kloiber: „Stewa Buryja: Lyrischer Tenor, auch Jugendlicher Heldentenor“)

Christian-Andreas Engelhardt: Das ist wie für meine Stimme geschrieben. Die einzige Schwierigkeit ist die Sprache, das Tschechische, sonst könnte ich die Partie vom Blatt singen.

Zwei Nachsätze aus unterschiedlichen Zeiten ...

Die Vorstellungen singt er alle gerne. Auf Stewa freut er sich, bei Cajus leidet er noch ein wenig, aber das wird sich schon ändern. Hat es sich eigentlich schon, denn eben kam er nach einer Probe vorbei und war wohlgelaunt. Gerade hatte Dirigent Marko Letonja gegenüber dem Orchester den Charakter seines Dr. Cajus  nicht gerade schmeichelhaft beschrieben, als „ einen hässlichen, alten Sack, der Nannetta unbedingt heiraten möchte“. Ja, und jetzt musste sie dann doch verteidigt werden, die Partie und die Figur. Und so hat Christian-Andreas Engelhardt mit seiner Allongeperücke auf dem Kopf von oben herab böse in den Orchestergraben geschaut – sehr zur allgemeinen Erheiterung. Also Toi Toi Toi für die Premiere, die – wenn Sie diesen Artikel lesen – schon Geschichte ist. 

Nachsatz: Ja, so sah es Mitte März noch aus. Jetzt ist alles anders. Die Premiere wäre am 15. März gewesen, heute ist der Spiel- und Probenbetrieb eingestellt. Das Theater macht kein Theater. Und man fragt sich, ob es dann eigentlich noch ein Theater ist. Es wird wieder eines werden, das ist sicher, und Falstaff wird kommen – auch das ist sicher. Unsicher ist wann. Das ist nicht gut auszuhalten. Für keinen von uns. Aber es gibt wirklich Wichtigeres gerade: Gesund bleiben, zum Beispiel.