Ich? Ein Stück über Italo-Pop?
Tom Liwa denkt über Coincidenza e Probabilità nach … denn Zufall und Wahrscheinlichkeit haben ihn für „Azzurro“ ans Theater Bremen gebracht …
Nicht weit weg von meinem Wohnort – um genauer zu sein: zwei Dörfer weiter, in Breselenz/Wendland – ist am 17. September 1826 einer der genialsten Typen der Mathematik-Geschichte geboren: Bernhard Riemann. Eins seiner Spezialgebiete war die Ausbreitung der Primzahlen in der Abfolge der natürlichen Zahlen. Weil ich dieses Thema so ungemein faszinierend finde (und weil es großes Theater ist), möchte ich mich hier kurz dazu auslassen. Primzahlen, bekanntlich nur durch eins und sich selber teilbar, stellen, ähnlich den Atomen in der Physik, das Skelett der Mathematik dar. Sie sind das Material, aus dem sich alle anderen Zahlen zusammensetzen. Ganze Generationen von Mathematikern haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie es sein kann, dass eine solch essenzielle Spezies sich so scheinbar ungeordnet über den Zahlenstrahl verteilt.
Manchmal wirken Dinge nur so lange ungeordnet, bis das Muster erkannt wird. Manchmal gibt es kein Muster, aber trotzdem eine Ordnung.
Was Riemann herausfand, war (verkürzt), dass die Zufälligkeit des Auftretens der Primzahlen annähernd exakt der Zufälligkeit (genauer: dem Verhältnis von Zufall und Wahrscheinlichkeit) entspricht, die wir auch in der Natur vorfinden. Ob dies für die komplette (angenommen unendliche) Menge an Primzahlen gilt, kann logischerweise nicht bewiesen werden. Eine Handvoll Nerds ist am Thema dran, und die bisher höchste Primzahl, die sie entdeckten, ist immerhin 23.249.425 Stellen lang. Trotzdem gilt die sogenannte Riemann-Hypothese auch als Riemann-Vermutung (mit megahoher Wahrscheinlichkeit). Crazy shit! Gibt es also einen Bauplan der Schöpfung, der angewiesen ist auf eine Vageness, wie wir sie in unseren Leben ständig erleben? Sind die verschiedenen Bewusstseinsebenen, auf denen wir aware sein können, nichts anderes als unterschiedliche Rechenoperationen mit demselben Material? Geht es also gar nicht darum, Wahrheit und Narrativ in Deckungsgleichheit zu bringen, sondern es reicht, wenn sie sich mögen?
Und was bedeutet es, von diesem neuen Platz aus betrachtet, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren?
Zuletzt war ich, für meine Verhältnisse, ziemlich erfolgreich – das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge – als weißer, alter Mann auf dem Weg des Songschreibers. Eine Option, für die ich mich irgendwann entschied und die ich dann verfeinerte. Das wundervolle Artwork zu meinem „Album des Jahres“ im Rolling Stone – gemalt von Mioke nach einer Fotografie von Saskia Lippold – hängt übrigens im April für wenige Tage im Mauritshuis/Den Haag an genau der Stelle, wo sonst Vermeers Original hängt. Auch dies dank einem interessanten Zusammenspiel von Koinzidenz und Wahrscheinlichkeit.
Im Januar saß ich ein wenig ratlos am Küchentisch und dachte über mögliche Schritte in 2023 nach.
Da kam eine Mail von Josef Zschornack mit dem Angebot, die musikalische Leitung für Azzurro am Theater Bremen zu übernehmen. Ich? Ein Stück über Italo-Pop?? Warum eigentlich nicht – manchmal ist nichts langweiliger als Kernkompetenz. Also verbrachte ich die letzten anderthalb Monate mit ausschweifender Italienrecherche, habe mich durch Drum Machine Disco und queeren Poserrock bis zum neapolitanischen Volkslied durchgegraben und eine Perspektive entwickelt, die nur noch sooo viel Vorurteil und soo viel Wissen im Vergleich zu vorher ist.
Habe die alten Filme noch mal in dreifacher Geschwindigkeit geguckt und bin mit Tolkien über den Brenner.
Wohlgemerkt: Von einer Handvoll ikonischer Klassiker abgesehen wird in Azzurro nicht gecovert, sondern ich schreibe neues Material, Songs über alles, was in diesen Himmel halt reinpasst – von der scheußlichen Frisur der Präsidentin bis hin zu ... Primzahlen. Am 3. Juni ist Premiere mit den tollen, singenden Schauspieler:innen des Ensembles, und die Band an meiner Seite ist dieselbe, mit der ich ab Sommer viele Konzerte spiele: Angela Gobelin am Bass, Björn Ehlen an der Gitarre und Lars Plogschties am Schlagzeug, meine Gruppo Musica del Faro.
Berhard Riemann starb am 20. Juli 1866 in Selasca/Verbania am Lago Maggiore.
Unser Autor:
Tom Liwa, 1961 in Duisburg geboren, ist ein deutscher Singer/Songwriter. 1985 gründete er die Flowerpornoes, die es mit Unterbrechungen bis heute gibt. Seitdem wechselt er zwischen Bandgefüge, Solowerk und verschiedenen Projekten (Paradies der Ungeliebten, Tim-Isfort-Orchester u.a.) – ebenso wie zwischen Indie-Rock und Pop, Ukulele und Ambient-Joiks, aber Songwriter-Kunst ist es immer, ob mit den von ihm gegründeten Bands Sundown, Mikrosaivo, Marion van der Beeks Seven Sisters oder nun mit der Leuchtturmband. Im Laufe der Jahre hat Liwa mehr als 30 Alben und etliche Bücher veröffentlicht, 2019 übernahm er die musikalische Leitung bei „Salome" am Theater Oberhausen. Seit 2020 bringt er mit d,dmfk (der, den mein freund kannte) all seine Werke super-independent auf Bandcamp heraus. Tom Liwas jüngstes Album „Eine andere Zeit" wurde vom deutschen Rolling Stone zum Album des Jahres 2022 gewählt – als erstes deutschsprachiges Album überhaupt.
Auf dem Bild oben ist Tom Liwa, gemalt von Mioke nach einer Fotografie von Saskia Lippold, als Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“, Cover seines Albums Eine andere Zeit.