„Ich wollte immer eher lyrisch sein.“

Sopranistin Nerita Pokvytytė gehört seit 2014 zum Ensemble des Theater Bremen, Brigitte Heusinger, leitende Dramaturgin im Musiktheater, hat sich mit ihr zum Gespräch getroffen.

„Ich stamme aus Litauen“, beginnt Nerita Pokvytytė und wir sind mitten drin in einem Diskurs über die aktuelle Situation. „Unser einziger Schutz ist, dass wir in der Nato sind, sonst wären wir jetzt im Krieg. All die Jahre nach unserer Unabhängigkeit im Jahre 1990 haben wir Litauer:innen gepredigt, dass es in absehbarer Zeit Probleme geben, dass etwas passieren wird. Keiner hier hat uns ernst genommen. Alle ‚westlichen‘ Gesprächspartner:innen, denen ich in der Vergangenheit erzählt habe, dass unser Land alles dafür tut, wirtschaftlich und energietechnisch unabhängig von Russland zu werden, hielten das für paranoid.“ Und sie erzählt noch etwas anderes aus diesen Begegnungen. „Fast immer, wenn ich meine Herkunft erwähne, kommt die Rede darauf, ob ich Russisch sprechen würde. Diese Frage irritiert mich auf Grund unserer historischen und politischen Erfahrungen. Natürlich ist es auf kultureller wie menschlicher Ebene eine Sprache wie alle anderen, aber selbst, wenn ich auf Menschen aus Lettland oder Georgien treffe, braucht es erst ein Zeichen, bevor wir das Russische praktischerweise als gemeinsames Kommunikationsmittel benutzen.“

„Ich wusste ganz plötzlich, dass ich Opernsängerin werden wollte.“

Bis sie 18 Jahre alt war, hatte Nerita Pokvytytė kaum Berührung mit klassischer Musik. Doch ihre Musiklehrerin wurde auf sie aufmerksam und dann ging alles schnell. „Ich wusste ganz plötzlich, dass ich Opernsängerin werden wollte. Drei Monate habe ich gebraucht, mich auf die Aufnahmeprüfung im Konservatorium von Kaunas vorzubereiten und es hat geklappt.“ Ihre Ausbildung dort und an der weiterführenden Akademie für Musik und Theater in Vilnius hat sie gut auf die Herausforderungen eines Theaters wie Bremen vorbereitet, denn neben dem musikalischen und theoretischen Teil war es vor allem der szenische Unterricht, der viele Stunden beanspruchte. Sie erinnert sich amüsiert an ihre erste Begegnung mit Improvisation: „Wir sollten Hühner spielen. Wir fragten uns damals, was das solle, denn schließlich würden wir doch so etwas Seriöses wie Operngesang studieren. Aber wir wurden eines Besseren belehrt, indem unser Professor uns darauf hinwies, dass Hühner nicht nur Vögel seien, sondern alt, blind, dick, dünn, beweglich und schwerfällig sein könnten“. Nach Deutschland kam Nerita Pokvytytė dann über ein Stipendium des Schleswig-Holstein-Festivals, in dessen Chor sie wiederholt sang. Sie studierte an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, wo Clemens Heil – damals Erster Kapellmeister am Theater Bremen – sie hörte und nach Bremen lockte.

Wenn Koloratur, dann soll es bitte ein tragischer, ein tiefgründiger Charakter sein.

Seit 2014 gehört sie zum Musiktheaterensemble und steht jetzt gerade als Zerbinetta in Strauss Ariadne auf Naxos auf der Bühne. „Ich war nie darüber begeistert, Koloraturen zu singen, ich wollte immer eher lyrisch sein“, leitet sie unser Gespräch über die Partie ein. Und wenn Koloratur, dann soll es bitte ein tragischer, ein tiefgründiger Charakter sein. Nicht zufällig ist Donizettis Lucia di Lammermoor ihre Lieblingsrolle. „Was muss eine Frau erdulden, die ihr Leiden und das Unrecht, das ihr geschehen ist, nur zeigen kann, indem sie selber zur Mörderin wird“, fragt sie sich. Sie hat mit der Rolle gastiert und sie 2018 hier in Bremen gesungen. Aber ansonsten gehörten neben Aufgaben wie Konstanze in Mozarts Entführung aus dem Serail oder Gilda aus Verdis Rigoletto viele leichte, naive, spielerische Partien von Frasquita bis zu Barbarina zu ihrem Repertoire. Immer hat sie einen Weg gefunden, sie sich einzurichten, ihnen Abgründigkeit zu verleihen, und das macht sie jetzt eben mit Zerbinetta, einer sängerischen Virtuositäts-und Brillanz-Hausforderung.

„Wir Menschen haben alle unsere Geschichten im Leben und müssen uns entscheiden, ob wir darin stecken bleiben oder weitergehen“

„Zerbinetta redet mehr als sie denkt. Aber sie handelt wie eine Zauberin, die alle anderen locker macht.“ Nerita Pokvytytė hat den Briefwechsel des Autorenduos gelesen. „Strauss und Hofmannsthal hatten Konflikte, was die Partie betraf. Für Hofmannsthal war sie eine Randfigur, für Strauss ein Zentrum. Strauss wollte noch am Schluss der Oper ein Rondo für Zerbinetta scheiben, aber der Textdichter war vehement dagegen und so sind nur zwei kleinere Phrasen übrig geblieben.“ Und doch ist es auch ein Motto von Hofmannsthal, das ihre Interpretation der Figur leitet: „Wir Menschen haben alle unsere Geschichten im Leben und müssen uns entscheiden, ob wir darin stecken bleiben oder weitergehen, also das machen, was Hofmannsthal als Verwandlung bezeichnet hat.“

„Es sind Wörter zum Anfassen.“

Der Prolog der Oper sei ein Spaziergang, hier singe sie sich nur ein, sagt sie. Aber dann kommt im zweiten Teil ihre 12-minütige Arie, eingerahmt von zwei Ensembles. Keine Zeit zum Nachdenken. „Großmütige Prinzessin“ und schon geht es los. Gegen die Aufregung helfen die Erfahrung und eine Erkenntnis: „Lange habe ich gebraucht, bis ich verstanden habe, dass ich eigentlich nicht singen, sondern etwas erzählen muss.“ Und daher sind der Text und die Sprache, gerade die deutsche, immer wichtiger geworden: „Das Deutsche kann helfen, legato zu singen und kann schön und poetisch klingen. Wenn man ältere Aufnahmen hört, merkt man, wie bewusst Strauss die Wörter gewählt hat. Es sind Wörter zum Anfassen.“ Und sie macht es vor: „Ich habe nicht gelernt, die Männer zu verfluchen“ und badet sich in den Konsonanten M und den N des Wortes Männer. Dass Zerbinetta dem anderen Geschlecht überaus zugetan ist, vermittelt sich direkt und fast ein wenig anzüglich.

Nerita Pokvytytė hat ein Markenzeichen. Es ist der Spagat. Das erste Mal eingesetzt in dem Projekt Les Robots ne connaissent pas le Blues und danach durchaus öfter wiederholt. „Es gibt Darsteller:innen, die müssen viel über ihre Rolle reden und jedes Detail für sich klären. Ich brauche meinen Körper, Energie, Emotion, den Text, die Musik und dann gehe ich einfach los.“ Und heraus kommt etwas, das die Aufmerksamkeit bindet, weil es sehr eigen ist. Ihre Interpretationen, die immer auch aus ihrem Körper kommen, haben einen leichten Dreh, eine klitzekleine Irritation, die jedem ihrer Charaktere eine Besonderheit, ein Geheimnis verleihen. 

Am Schluss reden wir dann noch über die andere Lieblingsrolle und werden ernst: Gilda.

„Gilda will sich an Stelle ihres Geliebten töten lassen. Sie ist ein Opfer, aber sie ist auch verdammt stark. Wie im Krieg. Wir sagen alle, dass wir die Kämpfenden in der Ukraine bewundern. Aber würden wir auch kämpfen? (Schweigen) Heftig die Zeiten. (Schweigen) Wir haben es so gut hier.“

 

 

Veröffentlicht am 2. März 2023