In bedrängten Zeiten

Über große Literatur auf der Bühne, über Gewalt und Innehalten, über Fehler, die zu Narben werden könnten: Anlässlich der Premiere von Der Keim hat Pressesprecherin Diana König mit der Regisseurin Ruth Mensah gesprochen.

Tarjei Vesaas‘ Roman Der Keim gehört zu den tollsten, bewegendsten Büchern, die ich in meinem ganzen Leben gelesen habe. Er löst wirklich starke Emotionen aus. Insofern natürlich ein super Theaterstoff. Was ist das für ein Gefühl, dieses Buch auf die Bühne zu bringen?

Ruth Mensah: Erstmal freue ich mich, dass ich das machen kann. In dem Roman steckt viel Menschlichkeit, die uns alle angeht und die zeitlos ist. Und dann ist es aufregend und eine große Herausforderung, das in Bühnenvorgänge zu übersetzen, denn wie übersetzt man die Sogkraft des Romans, die Sogkraft der Sprache? Dafür muss man erstmal eine Form finden.

Die Geschichte spielt auf einer Insel. Es ist ein Tag der Erntepause, an dem viele ein bisschen Zeit geschenkt bekommen haben. Mit der Fähre kommt ein Fremder, seltsam schön, seltsam anziehend, wandert er umher. Die Idylle wird durchbrochen, als die Schweine unvermittelt durchdrehen. Das Unheil, das ihr Verhalten ankündigt, setzt sich fort. Es wird ein Mord geschehen, eine Hetzjagd folgt, bevor die Sonne untergeht, haben zwei Menschen ihr Leben verloren. Wie geht ihr mit der Gewalt um, wie stellt ihr das dar?

Es gibt die Körper, die sterben, nicht, sie werden nicht von Darsteller:innen gespielt. Das heißt, es gibt keinen Körper, an dem sich diese Gewalt entlädt. Mich interessiert die Frage: Wo fängt die Gewalt an? Was sind Gewaltdynamiken? Erstmal suchen sie den ersten Täter auf der Insel. In der Suche kippt das in eine Jagd. Und in der Jagd kippt es über in die Tat. Aber das geschieht gemeinsam in der Gruppe. Sodass es eine fast schon ekstatische, euphorische Erfahrung ist, die die Gruppe macht. Das Gewaltvolle ist wie ein Trip – manche steigen vorher aus, manche nicht und sind dann beteiligt am Mord. Kollektive Gewalt ist übrigens auch ein Phänomen unserer Zeit, weil es viele Missstände gibt auf der Welt, die in gewaltvollen Strukturen existieren: zum Beispiel, dass man postkoloniale Strukturen hat und Lithium-Abbau-Opfer hervorbringt, ist eigentlich eine gewaltvolle Struktur. Es ist natürlich auch die Frage, ob das Mitmachen, das Mitrennen, das Nicht-Eingreifen ein Teil der Gewaltdynamik ist.

Der Keim beschreibt eindringlich und mit wunderbarer Ruhe einen Sog und das Auftauchen daraus. Und eine Gruppe, die schuldig geworden ist. Dabei zeichnet Vesaas eine Situation, die in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit kaum denkbar scheint: Innehalten, Reue empfinden, Weiterleben mit dem Bewusstsein eines Fehlers. Vesaas, einer der bekanntesten norwegischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, schrieb den Roman 1940, kurz nach Beginn der deutschen Besatzung. Liest du darin etwas über Faschismus?

Ich glaube, man kann auf jeden Fall Bezüge zum Faschismus herstellen, weil es um Gewalt geht und blindes Mitlaufen. Mich interessiert das Phänomen Gewalt da allerdings mehr als das Phänomen Faschismus. Was noch spannender ist für mich, ist, was auf individueller Ebene passiert: Was passiert mit dem Individuum, wenn man sich als Masse oder Kollektiv begreift und die Grenzen des Individuums sich auflösen?

Nach dem Mord tauchen alle aus dem Kollektiv aus, müssen individuell mit ihrer Schuld umgehen …

Schuld interessiert mich gar nicht so stark, deswegen haben wir alle biblischen Anspielungen rausgenommen – mir geht es nicht um Gut und Böse, Vergebung und Reue. Man muss den Begriff Schuld aus einer anderen Perspektive angucken. Ich glaube, das Schwierige oder Herausfordernde am Mensch-Sein ist, dass wir permanent Fehler machen, große Fehler, kleine Fehler. Irgendwie spalten wir das von uns ab, wünschen uns, dass wir erlöst werden, dass uns vergeben wird. Manche Fehler vergeben wir uns selbst nie. Wenn man das mit Religion verbindet, dann braucht man diese höhere Instanz, damit man weiterleben kann. Und ich frage mich, warum kann man den Fehler nicht einfach integrieren, wie eine Kaiserschnittnarbe.

Das ist ein schönes Bild … die eigenen Fehler als Narben zu sehen.

Das hat auch was mit Trauer zu tun, darüber nachzudenken, dass man selbst fehlerhaft ist, dass man anderen was zugefügt hat. Aber auch damit, dass man sich selbst verletzt, wenn man jemand anderen verletzt. Ich glaube, dass wir als westliche Gesellschaft anders mit Trauer und Schmerz umgehen könnten, eher nach integrativen Formen zu suchen, als alles Negative wegzuschieben, weil man damit Teile von sich wegschiebt. Für den Umgang mit der Trauer gibt es kein Patentrezept, es darf nicht das Ziel des Trauerprozesses sein, dass er am Ende vorbei ist und abgehakt werden kann. Und das mag ich an diesem Roman: der erste Teil ist die Tat und der zweite Teil ist, sich hinzusetzen und zu schauen, wie man damit umgeht – ohne eine Lösung zu kennen, weil der Polizist verreist ist.

Am Ende des Romans kommt ein Pferd, das aus dem Stall gelassen wird und frei zwischen den Ausharrenden umherläuft. Ich zitiere mal: „Rolv fasste sich und hörte, dass etwas Großes mit harten Füßen herankam. Es war das Pferd. Jetzt konnte er das Tier im Zwielicht ausmachen. Kurz darauf spürte er den Pferdeatem ganz dicht bei sich. Eine harte, freundliche, lebendige Schnauze näherte sich und knabberte an ihm, gefolgt vom Duft des grünen Heus und Korns. Warmer Atem ihm entgegen. Das fühlte sich auf einmal so tröstlich an, es konnte kaum recht sein. Wie eine Erinnerung daran, dass das Leben weitergehen würde und einen mitnehmen wollte.“ Ich habe sehr geweint, als ich das gelesen habe.

Ja, aber das Ziel darf eben nicht Vergebung, Erlösung sein. Ich lese sehr viele Texte eines Philosophen, Bayo Akomolafe, in denen es darum geht, innezuhalten und ruhig zu bleiben in bedrängten Zeiten, ohne auf Lösungen zu warten. Ich finde es interessant, die Strukturen, in denen wir leben, zu befragen und abzuklopfen darauf, was wir verdrängen, um so leben zu können, wie wir es tun. Uns der Überforderung, die, glaube ich, jede:r mal spürt, zu stellen und diesen Weltschmerz angesichts von Hungersnöten, Katastrophen, Kriegen und ungerechter Ressourcen-Verteilung auszuhalten. Wir sind immer zu sehr mit Ablenkung und Überspielen beschäftigt, um uns damit auseinanderzusetzen.

Aber das Pferd bringt auch keine Erlösung, vielleicht Hoffnung darauf, dass man irgendwann die Sonne wieder genießen kann, vielleicht Trost. Wie macht ihr das?

Wenn es gelingt, müsste bei allen Leuten im Raum das Gefühl auftauchen, dass das Pferd im Raum ist – ohne, dass ein Pferd da ist.

Veröffentlicht am 25. März 2025.