Von der Unmöglichkeit der Abgrenzung
Der Bajazzo (Pagliacci) hat am 30. Oktober Premiere. Zu Probenbeginn Anfang September 2021 stellten die Regisseurin Ulrike Schwab und die Ausstatterin Rebekka Dornhege Reyes den Sänger:innen das Konzept der Inszenierung vor. Ein Blick auf die Probebühne ermöglicht von der Dramaturgin Caroline Scheidegger.
Ulrike Schwab: Pagliacci spielt im Schausteller-Milieu. Es geht um eine Theatertruppe, die von Zwischenmenschlichkeiten aufgerieben wird, von tiefen Sehnsüchten, der Suche nach Identität. Es gibt verschmähtes Begehren, rasende Eifersucht, vieles, was uns alle innerlich bewegt und auffrisst. Doch all diese menschlichen Konflikte bleiben nicht abseits der Bühne; die Figuren von Leoncavallo können das private Leben irgendwann nicht mehr von ihrem Spiel auf der Bühne trennen. Das Leben – und damit auch der Tod – brechen in die Fiktion hinein, so dass Nedda am Ende der scheinbaren Komödie zu Tode kommt. Und genau dieses Spiel mit dem Sterben, das Leben für die Kunst mit Haut und Haar bis zur Gefahr der eigenen Auslöschung, die physische Verausgabung der Künstler:innen auf der Bühne, die durchaus mit realen Schmerzen verbunden ist, das sind Themen, die mich schon immer fasziniert haben – und um die wir auch als Team in der Vorbereitung auf Pagliacci gekreist sind. Unser Ausgangspunkt war die Frage nach der Grenze zwischen dem Menschen und dem Künstler, so wie du es, Claudio (zeigt auf Claudio Otelli, der den Tonio spielt), gleich am Anfang in deinem Prolog ankündigst: Ihr werdet Menschen aus Fleisch und Blut sehen, Menschen, die echte Tränen weinen.
Und um diese Grenze zu untersuchen, haben wir uns besonders von der einen Kunstform inspirieren lassen, die vielleicht am deutlichsten die Grenze zwischen Künstler:in und Privatperson auflöst, und das ist die Performancekunst.
Wir haben uns mit ganz unterschiedlichen Performance-Künstler:innen beschäftigt: mit Valie Export, Hermann Nitsch, Bruce Nauman, Joseph Beuys. Laurie Anderson gehört dazu, auch Christoph Schlingensief. Und da gibt es auch sehr viele interessante Künstlerpaare, die wie Nedda und Canio gemeinsam lebten und arbeiteten und deren Paarbeziehung immer auch in ihrer Kunst sichtbar wurde: Christo und Jeanne-Claude, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely und vor allem auch Marina Abramovič und Ulay. Zwölf Jahre lebten sie eine Symbiose von Privat- und Kunstleben, bis sie sich dabei verloren und ihre Trennung in ihrer berühmten Performance The Great Wall Walk vollzogen. Sie liefen zu Fuß über 2000 Kilometer entlang der chinesischen Mauer aufeinander zu, um beim Aufeinandertreffen ihre Beziehung zu beenden, privat wie beruflich. Und genau darum geht es im Kern: dass das Werk nicht von der Künstlerin, vom Künstler zu trennen ist, sondern das Leben für die Kunst und das Leiden in der Kunst eins werden und verschmelzen. Im Zentrum all dessen steht der Körper. Performance ist immer Körperarbeit.
Der Körper ist es, an dem alles verhandelt wird, weil er die Grenze zwischen Privatperson und Künstler:in nicht markieren kann.
So wie ihr als Sänger:innen diese Grenze nicht zu ziehen vermögt, weil ihr Hochleistungssportler:innen seid. Jeden Abend auf der Bühne müsst ihr extrem schwierige Sachen singen, ihr müsst kämpfen, euch ängstigen, ihr schwitzt, ihr arbeitet euch ab an den Partien und seid immer so viel mehr als bloß eure Rolle. Und genau dies bewusst zu machen, das ist das Ziel dieser Arbeit. Ich möchte wirklich einen sehr puren, sehr ehrlichen, einen unverzierten Umgang mit dem Theater als Theater.
Es geht mir um das Ausstellen von Virtuosität und von Körpern, die sich etwas aussetzen.
Rebekka Dornhege Reyes: Die Auseinandersetzung mit dem Körper findet auch eine Entsprechung auf der Bühne. Bei uns gibt es keinen konkreten Ort und keine Theaterkulisse, sondern einen Raum, der den Bewegungen der Körper folgt, sie aber auch bestimmt und bewusst extremen Situationen aussetzt. Zentral ist die Schwebebühne, ein sehr großer hängender Plafond, den man zuerst nicht wahrnimmt. Zu Beginn sieht man eine leere Bühne, bis sich plötzlich der Boden zu heben beginnt. Der Plafond kann kippen, neue und andere Räume entstehen lassen, in ihm öffnen sich Klappen und man verliert den Boden unter den Füßen. Auch beim Kostüm geht es uns darum, euch als Performer:innen auszustellen. Wir bleiben bewusst an der Grenze zwischen Privatsein und Profession und haben für euch, die Solist:innen, so etwas wie ein „Nicht-Kostüm“ entworfen – ein relativ unprätentiöses, zeitloses „Künstlerkostüm.“ Den Chor hingegen haben wir überzeichnet. Er ist laut, bunt, die Karikatur einer Gesellschaft.
Ulrike Schwab: Mein Bedürfnis wäre es, bei Pagliacci den Zuschauer:innen direkt auf dem Schoß zu sitzen, ganz nah an sie heranzurücken. Leoncavallo behauptet ja keine abgeschlossene Kunstwelt, sondern bezieht uns als Publikum in alle Realitätsebenen des Stückes mit ein.
Rebekka Dornhege Reyes: Eigentlich dürfte es gar keinen hermetischen Bühnenraum geben. Wir haben den Künstlerkörper deshalb ganz bewusst in die Nähe des Publikums gerückt. Gleich zu Beginn sehen wir eine Vitrine, die Nedda als Körper ausstellt.
Ihr Körper ist Kunstobjekt und Ausstellungsstück zugleich.
Ulrike Schwab: Wie in einem Museum für moderne Kunst. Ich schaue mir etwas an, das ich zwar nicht genau deuten kann, aber es löst etwas in mir aus. Und das würde ich mir wünschen: Dass wir in die Oper gehen wie Menschen ins Museum, wir einfach freier und neugieriger auf unser Genre Oper schauen.
Veröffentlichung: 27.10.2021