„In mich steigt die Gräfin ein.“
Die renommierte Altistin Renée Morloc ist für Pique Dame zu Gast am Theater Bremen. Musiktheaterdramaturgin Brigitte Heusinger hat sie getroffen.
„Sagen Sie, ist es wahr, dass Sie für Konzerte mit einem Trabi bezahlt worden sind?“ Renée Morloc, weltweit und an den international renommiertesten Opernhäusern wirkende Altistin, lacht und erzählt: „Über mein Studium am Salzburger Mozarteum kam es 1984 zu einem Austauschkonzert in Weimar. Ich sang in der Alt-Rhapsodie von Johannes Brahms und war Feuer und Flamme über die Art des Musizierens. Es wurde aus der Partitur gelernt, denn es gab nicht wie im Westen den Überfluss an vergleichbaren Interpretationen auf Schallplatte, aus denen man sich seine Version heraushören konnte. Ein Mekka für mich – und so wurde ich immer wieder eingeladen und rutschte als Außenseiterin in die staatliche Künstleragentur der DDR. Mein erstes Konzert wurde halb in Ost- und zur anderen Hälfte in Westmark bezahlt. Aber da wohl nicht so viele Devisen zur Verfügung standen, fragte man mich beim zweiten Konzert nach Meißner Porzellan, das ich damals dröhnend langweilig fand. Die Alternative war ein Trabi – total super – und nach ca. 40 Konzerten war der fällig.“
Praktischerweise fand das letzte Konzert 1989 statt und so konnte sie ihn rüberfahren, den heißgeliebten hellblauen Trabi mit dem weißen Dach.
Jetzt ist Renée Morloc in Bremen und gibt die Gräfin in Pique Dame oder wie sie es formuliert: „In mich steigt die Gräfin ein.“ Und voller Euphorie und Identifikation redet die unkonventionelle Künstlerin über ihre Figur. Ihre Figur, die Gräfin, war Sängerin, eine erfolgreiche Sängerin, deren Karriere längst vorüber ist. „Die Wände sind mit alten Bühnenfotos behängt, die Gräfin kann die Erinnerungen an die schönste Zeit ihres Lebens nicht loslassen. Noch immer achtet sie auf ihre Kleidung. Doch sind ihre voluminösen Roben nicht mehr zeitgemäß und trotz ihrer Würde wird sie zunehmend zu einer belächelten Figur“. Das würde sie durchaus an Heute erinnern, wo auch sie die Realität der jungen Digital Natives nicht mehr teilen könne. Überhaupt die zeitlichen Verwerfungen, das ist für sie das Thema des Stückes. Und so findet sie die Überlegung von Armin Petras, die Handlung in das Jahr 2060 zu verlegen, super: „In eine Zeit, in der die Gebäude nicht mehr intakt sind, weder die architektonischen noch die Seelengebäude. Es gibt nur noch zerstörte Menschen und brüchige Betonklötze. Die Natur ist bedroht und doch haben sich unbekannte und bedrohliche Pflanzen wieder einen Lebensraum erobert. Es ist unwirtlich. Und es ist kalt. Wo ist der alte Samowar, wo ist mein altes Leben?“, fragt sie sich als Gräfin.
Textdichter Puschkin, dessen Pique Dame dem Libretto zugrunde liegt, bezog sich bei der Gräfin auf eine historische Figur, deren vermeintliches Wohnhaus heute in St. Petersburg noch besichtigt werden kann.
Auch sie liebte das Okkulte, hatte einen Sinn für das Geheimnisvolle, das Mystische. Bei Puschkin lernt sie in jungen Jahren den Grafen St. Germain kennen, der ihr ein Kartengeheimnis verrät, das sie zweimal weitergeben darf. Eine dritte Weitergabe würde jedoch den Tod nach sich ziehen. Zweimal schon hat sie ihr Geheimnis verraten. Und jetzt begegnet ihr ein junger, besessener Mann, dessen Namen nicht zufällig an den Grafen erinnert: German, der nachts in ihrem Schlafzimmer steht, um die gewinnbringenden Karten zu erfahren … Eigentlich eine Paraderolle für berühmte Sängerinnen, die jenseits der 70 sind. Anja Silja singt sie, Martha Mödl hat sie gesungen, Opernheroinen, die um einiges älter als Renée Morloc sind.
„Seit ich am Theater bin, verkörpere ich reife Frauen und ich liebe diese eckigen Charaktere.“
Mit nur 36 Jahren hat sie ihre erste Kabanicha, die Stiefmutter von Katja Kabanova aus Leoš Janáčeks gleichnamiger Oper gesungen. Und sie erinnert sich gerne an eine Inszenierung, in der sie die Regisseurin Andrea Breth gefragt hat, was sie so als verbitterte alte Kabanicha in ihrer Schublade versteckt hält. „Toll! Natürlich eine Bürste, einen altmodischen Spiegel, ein Gebetbuch, ganz sorgfältig eigeschlagen, aber darunter gäbe es dann eben noch eine Schublade, in der ganz unmögliche Dinge drin sind“, über die sie deutlich lieber schweigt. Dieser Dialog mit der Regie ist die Art der Zusammenarbeit, die sie schätzt und die sie gerade auch in Bremen erlebt: „Ich brauche direkte Auseinandersetzung, gemeinsam spielen, gemeinsam entwickeln. Natürlich haben Dirigent Yoel Gamzou wie Regisseur Armin Petras einen Plan im Kopf, aber wenn man reingrätscht und etwas anderes dazustellt, nehmen sie es von Herzen auf“. Sie sei einfach „keine Befehlsempfängerin“. Man merkt, dass sie, die eigentlich auf größere Häuser, „in denen man sich meist abschottet und oft eine Fassade statt eines Gesichtes aufsetzt“, abonniert ist, durchaus Schwierigkeiten mit dem internationalen „Opernzirkus“ hat. Aber durch die Art ihrer Rollen konnte sie es sich leisten, widerständiger zu sein, ihre Meinung zu sagen, „ohne bei den Agenturen und Theatern als schwierig zu gelten und dadurch langsam vom Markt genommen zu werden. Wenn meine Partien die jungen artigen Dinger gewesen wären, wäre das anders gewesen.“
Wie passt zu dem Bühnentier, dieser kraftvoll optimistisch humorvollen Darstellerin mit so viel Feuer diese leise Resignation?
„Irgendwann verlässt einen die Kraft“, sagt Renée Morloc. Die Hoffnung ist, dass es noch dauern wird. Aber für ein Danach gibt es schon Pläne. Sie hat Literaturwissenschaft studiert und schon immer geschrieben. Und sie macht Experimentalfilme. Gerade liefert sie Stoff und Ideen für einen Kurzfilm über Anne Frank, der den Gang über die versteckte Treppe im Amsterdamer Hinterhaus bis ins Vernichtungslager Bergenbelsen nachzeichnet. „Der Film spielt nur am Boden, es ist ein Bodenfilm. Und es ist ein Film über den Bodensatz der Gesellschaft, der die Gräueltaten des Faschismus erst ermöglicht hat.“
Veröffentlicht am 25. Mai 2023