Kein Walzer auf dem Goetheplatz

Antina Behrens, Chefdisponentin am Theater Bremen, arbeitet seit zehn Jahren am Silvesterabend. Ein Bericht über den normal üblichen Jahreswechsel ...

22:00 Uhr: Der Applaus der letzten Silvestergala im Theater am Goetheplatz ist verhallt. Mein Direktionsdienst für die vier Vorstellungen an diesem Tag ist beendet. Auf dem Weg zur Bühne durch das Publikum gehend, sehe ich in verklärte Gesichter und höre leise noch Brüderlein, Schwesterlein-Gesumme. Viele Menschen gehen jetzt nach Hause um in Ruhe nach diesem festlichen Theaterabend das neue Jahr intimer zu begrüßen. Viele Gäste bleiben aber auch gerne, um bei uns weiterzufeiern. Sie gehen in das obere Rangfoyer, an ihre festlich geschmückten Plätze an den großen runden Tischen, um mit ihren Partner*innen, Gatt*innen, Geschäftspartner*innen oder Theaterfreund*innen Silvester zu feiern. Ich hole mir ein Headset, um zu hören wo es „brennt“ und um erreichbar zu sein.

Auf der Bühne beginnt jetzt der schnellste Umbau der Saison.

Um 23.00 Uhr müssen die Türen, die auf die Bühne führen, für die Party geöffnet werden; so steht es auf dem Eintrittskarten. Sie muss in kürzester Zeit als der moderne Ballsaal erstrahlen, genauso wie ihn die Austattungsassisteninnen vom Haus in langer Planung entworfen haben. 60 Minuten ab jetzt und bitte ab sofort nicht mehr über die Seitenbühne gehen! Zu gefährlich. Die Podien werden gefahren, das große Orchester auf der Bühne wird abgebaut und über den Orchestergraben in die Unterbühne hinab gefahren, Seitenwände werden verschoben und geben den voreingerichteten Gastrobereich auf der linken Seite frei, Gläsergeklirre. Über die gesamte Bühne werden glänzende Bodenplatten verlegt, vorbereitete Stehtische, Sitzmöbel und Tische werden auf die richtigen Positionen geschoben und zu Ende dekoriert. Ein silberner Kugelvorhang, Kronleuchter, Discokugeln, und eine riesige Projektionsflächen werden vom Schnürboden abgelassen. Parallel arbeiteten die Video- und Beleuchtungsabteilung an den Partystimmungen und Videoeinspielungen. Der vorbereitete Bühnenwagen mit den DJ-Pulten wird reingefahren. Ich hole die DJs von der Pforte ab, übergebe Freikarten für Ehrengäste, Gutscheine für Essen und Getränke, zeige den Weg zur Bühne und zum DJ-Pult. Von jetzt an kommen sie alleine klar und ich habe einen Musikwunsch frei! Ich denke, es wird Street Life.

22:15 Uhr: Get in der Walzertänzer*innen an der Bühnenpforte.

Same procedure as every year, Begrüßung, Umkleideräume zeigen, Essen- und Getränke-Gutscheine ausgeben, Übergabe der Musikdateien an den Tonchef – kurzes Briefing – gefolgt vom Warm up im Ballettsaal, gemeinsamen Essen im Sitzungszimmer und dann in die im Dezember ausgesuchten und bereitgestellten Kostüme, je nach Partymotto – das letzte war Ballroom Babylon. Ich laufe zurück durch die feiernden Menschen im Foyer in mein Büro, um noch ein paar Neujahrsgrüße zu mailen und um zu essen. In Ruhe sitzen, Small Talk, Silvester feiern, Luftschlagen durch die Gegend pusten; erst möglich im nächsten Leben denke ich.

22:55 Uhr: Jetzt ist für mich immer der schönste Moment des ganzen Abends!

Allein mit allen, die den Umbau vollbracht haben auf der fertigen grandios aussehenden Bühne mit offenem Blick in den Zuschauerraum. Alle freuen sich, Musik läuft schon. Und dann noch schnell ein paar Fotos ohne Gäste! 23.00 Uhr: Die Türen zur Bühne gehen auf, Security sichert alle Zugänge, die Party beginnt und die Gäste strömen hinein.

23.15 Uhr: Die Walzertänzer*innen promenieren durch das Haus und durch die Foyers.

Viele Gäste beginnen ihre Garderobe zu holen, um das neue Jahr draußen auf dem Goetheplatz zu begrüßen. Sie drängen durch die Hauptportale. Security an allen Türen, Gedränge an den Garderoben, Sylvia Geffken, Arnold Arkenau und alle anderen Mitarbeiter*innen vom Abenddienst sind jetzt äußerst angespannt und besonders aufmerksam. Gäste dürfen raus, aber kein Unbefugte*r darf hinein. Durch die Türen dringt jetzt schon der Qualm der Böller, die zu früh gezündet werden. Die unteren Foyers riechen auf einmal sehr nach Rauch. Das wäre jetzt ein falscher Feueralarm gewesen und fünf Löschzüge hätten in kürzester Zeit vor dem Theater gestanden, aber alles ist wie immer vorschriftmäßig vorher organisiert worden.

23.50 Uhr: Die Walzertänzer*innen positionieren sich in den wunderschönen Kostümen paarweise hinter der Mitteltür des Haupteinganges. Die Hauptportale müssen geschlossen bleiben, damit keine Böller reinfliegen können. Höchste Vorsicht ist geboten. Andreas Hornburg der Bühnenmeister hält mit einem Kollegen draussen schon mal die Stufen frei.

23:55 Uhr: Auf der Treppe hält ein Kollege aus der Requisite schon 4 Turbogasfeuerzeuge und die bengalischen Feuer bereit, die die Walzertänzer*innen in die Höhe halten sollen beim Auftritt.

Immer wieder füllen sich die Stufen und der Weg zum Platz mit Menschen und versperren ihn. Gedränge. Frank Sonnemann, unser technischer Direktor, wirft sich heldenhaft den Massen entgegen und hält immer wieder die Gasse frei. Nahkampf! 23:59 Uhr: Mit den kleinen Bunsenbrennern zünden wir in rasender Geschwindigkeit die bengalischen Lichter an, Funken fliegen überall. Die ersten Raketen werden gestartet. Ich rufe durch den allgemeinen Lärm „jetzt!“ und „los!“ und „schneller!“ und die ersten Paare sind auch schon auf dem Weg, die Stufen hinunter um die Mitte des Platzes für den Walzertanz zu erobern. Wenn unser Tonchef Mathias Kluge den Countdown vom Balkon runterzählt und alle Tänzer*innen um 00:00 Uhr pünktlich im Kreis, mit noch brennenden bengalischen Lichtern auf dem Goetheplatz stehen und zum Musikeinsatz von Johann Strauß An der schönen blauen Donau zu tanzen beginnen: dann ist alles perfekt gelaufen! Und anschließend Alles Walzer auf bremisch auf dem Goetheplatz.

00:00 Uhr: Mein Dienst ist jetzt offiziell beendet.

Alle Menschen der „Task Force“ Silvester, die vor zwei Monaten mit der Planung begonnen haben, fallen sich gegenseitig mit Neujahrswünschen in die Arme und dann schnappe ich mir Frank und wir tanzen den ersten Walzer des Jahres. Das ist irgendwie Tradition geworden in den letzten Jahren. Danach öffne ich mir meine, in einer Ecke deponierte Sektflasche und treffe Freund*innen auf dem Platz solange Mathias als DJ vom Balkon auflegt und hunderte Menschen zum Tanzen bringt oder es zu kalt wird.

00:30 Uhr: Die Bühne Goetheplatz bebt vor tanzenden Menschen.

Alle Walzertänzer*innen sind inzwischen aus dem Kostüm raus und mischen sich im festlichen Zivil unter alle anderen Tanzfreudigen, zu denen sich jetzt auch alle Mitarbeiter*innen aus den Abteilungen, die an den Vorstellungen des Silvestertages beteiligt waren, gesellen. Jedes Jahr immer wieder ein rauschendes Fest bis in den frühen Morgen.

04:00 Uhr: Pünktlich stehen Arnold und Andy vor dem DJ und garantieren gnadenlos ein pünktliches Ende. Der Abbau beginnt und dauert bis es fast hell wird.

Die Taxen halten nicht mehr an und man läuft durch Scherben und Böller nach Hause. Ich rieche die verbrannte Silvesterluft gerne. Ich mag es einmal im Jahr laut, um das alte Jahr zu verabschieden, um Dinge hinter sich zu lassen. Silvester ist für mich immer wie ein Nadelöhr, durch das man hindurch muss oder wie die Enge in der Mitte einer Eieruhr. Danach wird alles wieder offener, freier und besser.

Diese Jahreswende wird zwar eine leise sein. Trotzdem wird anschließend alles wieder langsam offener, freier und besser werden.

Ein besonderer Dank geht in diesem Jahr an Friedrich Burdorf und seine Walzertänzer*innen, die jahrelang, allein aus Freude, auf dem Goetheplatz für uns alle zu Silvester getanzt haben.