Die Klassenfrage ist nicht verschwunden
Barbara Blaha leitet das Momentum Institut und ist Universitätsrätin an der Uni Wien. Mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske sprach sie über Reichtum qua Geburt, RTLZWEI und Armut als Politikversagen.
Stefan Bläske: Lass uns über „die Klassengesellschaft“ reden!
Barbara Blaha: Ich höre oft, „Klasse“ sei eine veraltete Begrifflichkeit, eine Kategorie des 19. Jahrhunderts. Und aus der zeitlichen Distanz wird tatsächlich deutlicher, wie sehr der Überfluss der einen die Not der anderen erforderte. Mit dem Wohlstandswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg war dann der Eindruck verbreitet, dass der Kapitalismus am Ende allen Menschen zum Vorteil gereicht, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Arm und Reich gibt, weil ja alle, die sich ein bissl anstrengen, auch reich werden können.
Stimmt aber nicht?
Mit der neoliberalen Wende in den 1980ern und 1990ern, dem Abflauen der Konjunktur, der Finanzkrise von 2008, dem Rückbau staatlicher Leistungen bei gleichzeitigen Steuergeschenken an die Superreichen ist klar geworden: Vielleicht hat sich am Grundprinzip unseres Wirtschaftssystems in den letzten zweihundert Jahren nicht allzu viel geändert.
Nicht Fleiß und Arbeit entscheiden, sondern Besitz und Zufall der Geburt?
Es ist gut belegt, dass der wichtigste Moment für das wirtschaftliche Vorankommen im Leben eines Menschen der Moment seiner Geburt ist. Wer einkommensstarke Eltern hat, braucht sich vor wenig zu fürchten. Haben die Eltern studiert, schaffen von 100 Akademikerkindern jedenfalls 81 die Matura (das Abitur in Österreich). Arbeiterkinder hingegen sind im Gymnasium eine Minderheit. An Universitäten sind sie echte Raritäten. Von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten schließen in Österreich 57 ein Hochschulstudium ab. Von 100 Arbeiterkindern schaffen das nur 7 Kinder. In Deutschland sind die Zahlen nicht besser.
Du selbst kommst auch aus einer Arbeiterfamilie?
Ich war neun, als meine Volksschullehrerin zu mir sagte, für „jemand wie mich” sei das Gymnasium wahrscheinlich nichts. „Jemand wie ich” war das Kind einer Arbeiterfamilie. Ein Kind, die Nase ständig in einem Buch, aber ohne einen Schreibtisch zu Hause. Ein Zuhause mit vielen Geschwistern – und wenig Geld. Es kostete mich früher Überwindung, davon zu erzählen. Ich bildete mir ein, dass nicht die Scham der Grund dafür ist, sondern die Sorge vor Entfremdung. Wenn ich erzählte, wo ich herkomme, merkte mein Gegenüber, wie weit weg das von ihm und seinem Leben war. Dann schauten wir beide in den Graben und schwiegen. Ich musste mich dann anstrengen. „Ja, so tief ist der ja nicht. Schau, arbeiten mussten wir doch beide während des Studiums.“ Mit jedem Stein, mit dem ich versuchte wieder eine Brücke zu bauen, wurde der Graben größer. Schwieg ich darüber, wo ich herkam, hatte ich zumindest keine Arbeit damit, den anderen für meine Armut zu trösten.
Was hat sich geändert?
Je älter ich werde, desto leichter fällt es mir zu erzählen. Vielleicht weil ich gelernt habe, das Unbehagen der anderen auszuhalten. Jedenfalls habe ich gelernt, die Ambivalenz auszuhalten, die für jedes arme Kind in dem Satz „Ich hatte eine schöne Kindheit” steckt. Meine Kindheit war schön, ja. Ich wurde geliebt und umsorgt. Meine Kindheit war furchtbar. Weil Geldsorgen Familien an die Belastungsgrenze und darüber hinaus schieben.
Unsere Inszenierung „Mach es gut!“ erzählt aus der Perspektive der Tochter von einer Frau, die aus Polen nach Deutschland kam und als Reinigungs- und Pflegekraft arbeitet. Inwiefern hat Klassismus auch mit Sexismus, Migration und (z.B. antislawischem) Rassismus zu tun?
Das ist natürlich die nächste Achse, entlang derer man ganz wunderbar ein Drinnen und Draußen, ein Oben und Unten deklinieren kann. Da sind wir auch mitten drin in der Frage, welche Arbeit welchen Wert zugemessen bekommt. Wer hat eine größere Chance, später mal einen Doktor-Abschluss zu machen – der Sohn des Primars oder die Tochter der Putzfrau? Wer hat eine größere Chance auf einen Sitz im Bundestag – Manfred oder Mohammed? Wer sagt: Mit der besten Bildung lösen wir soziale Ungleichheit auf, der schreibt ins Kleingedruckte: Du bist selbst schuld, wenn du nicht anständig lernst, wenn du nicht anständig leistest. Wenn du den Aufstieg nicht schaffst, dann ist auch deine Armut selbst verschuldet. Dabei ist es genau umgekehrt. Armut in reichen Gesellschaften ist Politikversagen. Wirksame Armutsbekämpfung ist institutionell, nicht individuell.
Wie von all dem erzählen? Entsteht dann „sozialer Realismus“ auf der Bühne oder „Sozialpornographie“ im Fernsehen?
Jeder Privatsender hat sein „Unterschicht-Format“, in dem die Armen vorgeführt werden. RTLZWEI hat aus der Idee gleich einen ganzen Sender gemacht. Viele dieser Formate bedienen die Idee, dass Arme doch irgendwie selbst schuld sind an ihrem Schicksal. Zu dumm, zu faul, zu wenig leistungsbereit für unsere Leistungsgesellschaft. Zweitens ist das eine gute Drohkulisse. Bei „denen da unten“ will man auf keinen Fall landen, in diesem Sinne ist das Vorführen und lächerlich machen von armen Menschen auch ein Disziplinierungsinstrument. Generell ist über Armut zu berichten sehr anspruchsvoll. Rohe Zahlen, nackte Statistiken liefern Daten, das menschliche Leid können sie nicht spürbar machen. Da ist es mehr als verlockend, über Einzelschicksale zu berichten. Aber der Fokus auf das Einzelschicksal verstellt Wesentliches: Er zeigt keine gesellschaftlichen Ursachen, keine politischen Lösungsansätze, keine Ansprüche, und erst recht keine Verantwortlichen.
Was sind denn gesellschaftliche Ursachen und Verantwortliche?
Die Reichen erwirtschaften Profite, indem sie denjenigen, die für sie arbeiten, nur einen Teil des Wertes abgelten, den diese Menschen durch ihre Arbeit erwirtschaften. Es gibt einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen demjenigen, der Arbeit unter Wert zukauft und demjenigen, der vom Verkauf seiner Arbeit leben muss. Zwischen beiden Seiten kann es vorübergehende Kompromisse geben, aber der Grundkonflikt bleibt, der ist unter kapitalistischen Vorzeichen nicht auflösbar.
Demnach ist es zweitrangig, ob man als Schauspieler:in oder Reinigungskraft arbeitet?
Der eine ist scheinselbstständiger Paketbote, der zweite arbeitet als Sub-Sub-Unternehmer auf dem Bau, die dritte arbeitet als 24H-Pflegerin zu einem Hungerlohn und der vierte ist gut bezahlter leitender Angestellter in einem Call Center. Das zersplittert die Klassenfrage: Das Entdecken gemeinsamer Interessen ist schwieriger geworden, kein Zweifel. Niemand wird leugnen, dass sich in den letzten hundert Jahren wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen massiv verändert haben. Aber sind wir deshalb zu einer Gesellschaft von Freien und Gleichen geworden? Nein. Die Machtverhältnisse sind nicht verschwunden, sie haben sich nur ebenfalls verändert.
Veröffentlicht am 24. Januar 2025