Kleine Kreise der Kreativität

Der Dramaturg Ármin Szabó-Székely – langjähriger künstlerischer Mitarbeiter der Kompanie HODWORKS – über die zeitgenössische Tanzszene im Ungarn der 2010er Jahre.

+++english version below+++

Wenn man sich anschaut, wer in den vergangenen zehn Jahren für den Rudolf Lábán-Preis nominiert wurde oder ihn gewonnen hat – einen Preis, der als Anerkennung für die besten Choreograf*innen und Produktionen der zeitgenössischen Tanzszene Ungarns geschaffen wurde – so fällt auf, dass es eine wachsende Tendenz zu kleinen Besetzungen von bis zu vier Performer*innen sowie kollektiven Arbeitsweisen gibt. Dies ist ein weithin sichtbares und oft diskutiertes Phänomen der zeitgenössischen Tanzszene in Ungarn: Die experimentellen und progressiven Trends werden von einem Netzwerk junger Künstler*innen dominiert, die sich nicht nur gegenseitig inspirieren, sondern auch in den Projekten der jeweils anderen auftreten und daran mitarbeiten. Ihre Arbeiten werden hauptsächlich in vier verschiedenen Spielstätten in Budapest gezeigt, deren Kapazität von 50 (bei Studiopräsentationen) bis zu 300 (im Trafó House of Contemporary Arts) Zuschauer*innen reicht. Diese Spielstätten und Künstler*innen haben ein treues und aufgeschlossenes Publikum und – wenn man so will – künstlerische Freiheit. Klingt großartig? Die Wahrheit ist, dass dieses starke Netzwerk von Künstler*innen und kleinen Produktionshäusern auf einem Kampf ums Überleben aufbaut. Dieser Kampf besteht aus drei Elementen:

  1. Was wir gemeinhin unter zeitgenössischem Tanz verstehen, ist außerhalb von Budapest praktisch unbekannt.

Ungarn ist ein Land mit zehn Millionen Einwohner*innen, von denen 1,7 Millionen in Budapest leben. Was wir gemeinhin unter zeitgenössischem Tanz verstehen, ist außerhalb von Budapest praktisch unbekannt. Die größten Städte des Landes verfügen üblicherweise über Kompanien, die an die städtischen und staatlichen Theater der jeweiligen Städte angebunden sind. Diese Kompanien repräsentieren in der Regel eine Ästhetik, die von den internationalen Tendenzen des zeitgenössischen Tanzes nahezu unberührt geblieben sind. Ihre Stücke basieren auf Storytelling (oft als Adaptionen auf Werke der klassischen Literatur) und arbeiten mit Elementen aus Modern Dance, modernem Ballett und volkstümlichem Tanz. Doch selbst in Budapest ist das Publikum für zeitgenössischen Tanz begrenzt. Treu heißt hier gleichzeitig starr. Eine der dringendsten Fragen, mit der sich Künstler*innen und Spielstätten daher konfrontiert sehen, lautet: Wie kann ein neues Publikum außerhalb der eigenen Blase erreicht werden? Wie kann zeitgenössischer Tanz in Ungarn sichtbar werden?

  1. Die Tanzszene ist von einer so scharfen Trennlinie durchzogen, dass es den Anschein macht, als bestünde sie aus zwei parallelen Welten.

Es gibt eine extrem große Lücke zwischen jenen Kompanien, die von Seiten der „offiziellen Kultur“ anerkannt sind, und den freien Gruppen. Diese Lücke ist nicht nur eine finanzielle. Die oben genannten ästhetischen Unterschiede gehen mit einer scharfen Trennlinie einher, die zwischen Choreograf*innen, Tänzer*innen und anderen Künstler*innen verläuft. Diese Struktur der Trennung teilt das Feld des Tanzes in zwei parallel existierende, nahezu undurchlässige Welten: Die Welt der größeren Modern Dance- und Tanztheater-Kompanien, die über eine stabile Förderung, eigene Studios und elegante Spielstätten verfügen, und das Universum der frei arbeitenden zeitgenössischen Tänzer*innen, die in ständig wechselnden Konstellationen arbeiten, Proben- und Aufführungsräume miteinander teilen und in permanenter finanzieller Unsicherheit leben. In einem relativ kleinen Land, in dem es darum gehen müsste, der Kunstform des Tanzes insgesamt mehr Anerkennung zu verschaffen, entstehen innerhalb der Tanzszene parallele Strukturen statt Kooperationen – eine Verschwendung von Potenzialen und kreativer Kraft.

  1. Die praktischen Umstände bestimmen die künstlerischen Ergebnisse.

Die Freiheit der Künstler*innen ist theoretisch unbegrenzt, aber die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, schränken ihre tatsächlichen Möglichkeiten dramatisch ein. Durch die finanzielle Unsicherheit und die Tatsache, dass die zeitgenössischen Tänzer*innen des Landes in der Regel freischaffend arbeiten (in Ungarn und im Ausland), ist es nahezu unmöglich, Produktionen mit mehr als 6 Tänzer*innen zu finanzieren, organisieren und terminieren. Dies führt dazu, dass zeitgenössische Choreograf*innen von Grund auf „klein“ denken, ohne die Möglichkeit, an großen choreografischen Strukturen, komplexen visuellen Designs und überwältigenden theatralen Effekten zu arbeiten. Derartige Beschränkungen können selbstverständlich auch produktiv wirken, werden allerdings sofort zu einem unüberwindbaren Hindernis, wenn Künstler*innen sich bewusst in eine andere Richtung entwickeln wollen. Der klaustrophobische Charakter der zeitgenössischen Tanzszene Ungarns kreiert eine interessante Tendenz zu mitunter sehr eigenen Handschriften. Da der Kreis des erreichbaren Publikums als auch der zur Verfügung stehenden künstlerischen Partner*innen vergleichsweise klein ist, können die Tanzschaffenden sehr persönliche und spezifische Richtungen einschlagen, mit Produktionen, die aufeinander aufbauen und aus denen sich interessante individuelle Ästhetiken und „Stars“ an den Rändern der Szene entwickeln. Doch auch das ist eine ambivalente Situation. Einerseits kann es als glücklicher Umstand gewertet werden, dass die Künstler*innen befreit von Erwartungen Risiken und Experimente eingehen können. Andererseits riskieren sie damit, dass ihre Arbeiten einem größeren Publikum gegenüber unzugänglich bleiben – was für die Vertreter*innen einer „offiziell anerkannten“ Kultur wiederum ein Argument gegen sie ist. Es scheint, als wären derzeit nur wenige Künstler*innen in der Lage, der Falle zu entgehen, nicht nur mit- sondern auch hauptsächlich füreinander zu arbeiten.

Die kürzlich am Theater Bremen mit der Kompanie Unusual Symptoms entstandene Arbeit Coexist gab Adrienn Hód die Gelegenheit, choreografische Strukturen für ein Ensemble von zehn Tänzer*innen zu entwickeln – eine Möglichkeit, die sie in Ungarn seit 2006 nicht bekommen hat.

Eine der anerkanntesten unabhängigen zeitgenössischen Tanzkompanien in Ungarn ist HODWORKS – eine wechselnde Konstellation unterschiedlicher Künstler*innen, die um einen stabilen Kern von drei bis vier Personen und die Choreografin Adrienn Hód kreist. Die kürzlich am Theater Bremen mit der Kompanie Unusual Symptoms entstandene Arbeit Coexist gab Adrienn Hód die Gelegenheit, choreografische Strukturen für ein Ensemble von zehn Tänzer*innen zu entwickeln – eine Möglichkeit, die sie in Ungarn seit 2006 nicht bekommen hat. Doch es geht nicht nur um die Anzahl der Personen auf der Bühne, sondern auch um jene, die zuschauen. Im Jahr 2014 war mit Dawn – eine abstrakte, minimalistische und gleichzeitig sehr physische Arbeit mit vier Performer*innen - eine Produktion von HODWORKS zu einem Gastspiel in einer kleineren Stadt in Ungarn eingeladen. Die Organisator*innen dieses Gastspiels gehören seit den 1980er Jahren zur alternativen Theater- und Tanzszene des Landes. Die Vorstellung sollte in einem kleinen Raum der lokalen Hochschule stattfinden. Als ihr klar wurde, dass die Tänzer*innen in der Produktion nackt sein und die Zuschauer*innen um sie herum sitzen würden, äußerte die Hochschulleitung Einwände gegen die Vorstellung in ihren Räumlichkeiten. Um das Gastspiel zu retten, schlug der Bürgermeister der Kompanie vor, dass die Tänzer*innen hautfarbene Anzüge tragen sollten. Die Vorstellung wurde daraufhin abgesagt. Und ich hatte ein langes Gespräch mit dem Bürgermeister – der gleichzeitig mein Vater ist – über die Frage nach Obszönität auf der Bühne.

Anmerkung:

Dieser Text entstand, bevor das ungarische Parlament gegen den Protest zahlreicher Organisationen und Institutionen der professionellen Theater- und Tanzszene am 11. Dezember 2019 ein neues Kulturgesetz verabschiedet hat. Dieses Gesetz und die begleitende Medienkampagne zeigt den Willen der aktuellen ungarischen Regierung, ihre Kontrolle über den Kultursektor weiter auszuweiten. Dies stellt eine fundamentale Bedrohung für die Existenz unabhängiger Künstler*innen in Ungarn dar.

 

Small Circles of Creativity

Dramaturge Ármin Szabó-Székely, who works with HODWORKS, on the Hungarian contemporary dance scene during the 2010s.

When we look at the nominees and winners of the Rudolf Lábán Award (an award to acknowledge and promote the best creators and creations in contemporary dance in Hungary) over the course of the last decade, we will find a rising tendency of small casts, meaning up to 4 performers, and collective creations. It’s a very visible and well-discussed phenomenon within the contemporary Hungarian dance scene: A network of young artists dominates all the experimental and progressive trends, and these artists are not only inspiring each other’s works but also perform and co-create within each other’s projects. Their works are usually shown at 4 different venues in Budapest, where the audience sizes may vary from 50 (at workshop presentations) to 300 people (at the Trafó House of Contemporary Arts). These venues and creators each have their own faithful and open-minded group of followers, and – let’s put it this way – artistic freedom. Sounds great? In fact, this strong network of artists and small production houses is founded on a fight for survival. This fight consists of three elements:

  1. What we call contemporary dance is practically unknown outside of Budapest.

Hungary is a country of 10 million inhabitants, while Budapest has a population of 1,7 million. What we call contemporary dance is practically unknown outside of Budapest. The biggest cities in the country typically have modern dance companies in residency at the state theatre of their respective city. These companies generally represent very different aesthetics untouched by international tendencies of the last 20 years: performances are based on storytelling (often adaptations of classical literature works) and built upon elements of modern dance, modern ballet and folk dancing regarding technique. But even in Budapest, the circles of people interested in contemporary dance are very limited. A faithful audience, in this case, spells a fixed audience. One of the most urgent questions by venues and creators alike is the one for a workable approach to reach new people outside of their bubble, in order to provide visibility to contemporary dance throughout Hungary.

  1. The dance field is so divided that it seems like two parallel worlds exist in parallel

There’s an extremely wide gap between companies acknowledged by official culture and the independents. The gap is not only evident in or limited to financing. The aesthetic differences mentioned above go hand in hand with the build-up of a dividing line between choreographers, performers, and other artists. The dance field is so divided - based on this divisive structure -, that it seems like two parallel worlds exist next to each other, with almost no crossover: the world of big(ger) modern dance and/or dance theatre companies with access to stable state funding, private rehearsal places and elegant performing venues versus the universe of independent contemporary dancers at work in constantly changing constellations, sharing rehearsal and performing spaces while living in financial precariousness. In a relatively small country, where the genre itself should work for wider recognition, it is a huge waste of human resources and creative power to build parallel structures on the dance field instead of entering into cooperation.

  1. The practical conditions define the artistic outcome.

The practical conditions define the artistic outcome. It’s a vice versa situation, where the creators’ freedom is not limited in theory, while in truth, the circumstances are actually more and more constricting to what s/he can do in practice. With funding insecurity and all performers freelancing, both in Hungary and abroad, it is almost impossible to finance, organise and schedule performances operating with more than 6 dancers. This forces contemporary choreographers to ‘think small’, eliminating grand choreographic patterns, complex visual design and overwhelming theatrical effects beforehand. This could be artistically favourable, even, but it straightaway becomes an obstacle when someone wants to develop in other directions. The kind of claustrophobic character displayed in the contemporary field also creates particularisation. Because the spheres of audiences and artistic collaborators are limited, artists can go into very specific and personal directions, wherein performances are built upon each other creating their own artistic languages, giving rise to fringe ‘stars’. This is an ambiguous situation, too: On the one hand, it’s very fortunate that artists ‘do not care’ about expectations and dare to experiment, but they also risk forfeiting any chance of wider audience recognition – which is one of the arguments brought forth by official culture against them. It seems like very few artists can avoid the trap of creating not only with but also to each other.

The work Coexist in Bremen in collaboration with Unusual Symptoms provided an opportunity to choreographer Adrienn Hód to build new choreographic patterns for 10 dancers, a prospect she hasn’t had in Hungary since 2006.

One of the most acknowledged independent contemporary dance companies in Hungary is HODWORKS, a fluctuating constellation of different artists with a stable core of 3 or 4 people. The work Coexist in Bremen in collaboration with Unusual Symptoms provided an opportunity to choreographer Adrienn Hód to build new choreographic patterns for 10 dancers, a prospect she hasn’t had in Hungary since 2006. But it is not only about the people on stage, it’s also about the people watching. In 2014, one of the company’s creations, Dawn - an abstract, minimalist, but very physical performance of 4 naked dancers – was invited to a smaller Hungarian town. The cultural promoter inviting the show has been a part of the country’s alternative theatre and dance scene since the 1980s. The performance was scheduled to take place in a room at the town college. When word started getting out that the dancers were to perform naked with the audience placed, sitting, around them, the college’s directorial board objected. The mayor suggested a compromise in that dancers could be wearing skin-coloured body dresses. The show was cancelled eventually. And I had a long talk with the mayor - who happens to be my father - about what is obscene on stage.

Note:

The text was written before the Hungarian Parliament adopted a new cultural law (11.12.2019), ignoring the firm repudiation towards this law voiced by numerous professional organisations and institutions within the theatre and dance fields. The new law and its accompanying media campaign both signal the government's obvious intention of gaining an even firmer grip on the cultural scene. This poses a fundamental threat to the very existence of independent creators.