Kooperation: Die September-Kolumne
Michael Börgerding über Herausforderung und Höflichkeit, Furcht und Freiheit und den Start in die Spielzeit 23/24.
Wir leben in außerordentlichen Zeiten. Eine Zeit der Wirren, die ziemlich sicher so vor 15 Jahren nicht vorstellbar war. „The time ist out of joint“, heißt es bei Hamlet. Die Zeit ist aus den Fugen.
Das erste nicht vorstellbare Ereignis war sicher die Weltfinanzkrise 2007. Die Welt außer Atem. Der Bürgerkrieg in Syrien, die Niederschlagung des arabischen Frühlings. Die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg 2015. Dass Großbritannien die EU verlässt: nicht vorstellbar. Dass nach Barack Obama ein Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte, dass islamische Extremisten Terroranschläge wie in Paris oder Brüssel verüben und einen eigenen Staat gründen, dass ein Virus die ganze Welt in Quarantäne stellt, dass eine rechtsradikale, völkische Partei mit über 20 Prozent Zustimmung in Deutschland rechnen kann, dass Demokratien in Osteuropa auf der Kippe stehen: alles war nicht vorstellbar. Und all das vor dem Hintergrund der Verschärfung der Klimakrise.
Dass Russland die Ukraine mit einem Angriffskrieg überziehen würde, lag außerhalb eines Erfahrungshorizont, der seit 1989 glaubte, das Blockdenken wäre vorbei. Zumindest meine Generation lebte einige Jahre mit der Hoffnung, die Welt würde sich jetzt neu und friedlich ordnen.
Das Schockhafte, Überraschende, Bestürzende, Nichtvorstellbare scheint sich zu verstetigen – lauter Katastrophen ohne Plötzlichkeit. Erlebnisse ohne Erfahrungen. Es gibt so etwas wie die Blindheit des Moments. Wie fasse und wie beschreibe ich jetzt, was ich nicht fassen und beschreiben kann? Was bedeutet das für das Theater und eine reflektierte Zeitgenossenschaft? Vor allem, denke ich, ist die Zeitgenossenschaft so mühsam und irrtumsbehaftet wie noch nie – oder wie immer schon?
Vielleicht helfen drei Begriffe – in aller Bescheidenheit, Hilflosigkeit und Blindheit:
Abstand. Ein historisches Bewusstsein kann helfen, das Eigentliche des Moments durch ein Netz von Vergleichen zu identifizieren – ohne dabei zu viel auf Meinungen zu geben: Das achte Leben (Für Brilka) oder Doctor Atomic (und Macbeth, The Hours, Titus, Vor Sonnenaufgang …).
Neugierde. Nur wenn ich wissen will, was der Andere denkt und fühlt, erfahre ich etwas über mich selbst. Neugierig sein auf andere Erfahrungen und auf andere Leben: Ȃşiklar – Die Liebenden oder Die Erfindung des Jazz im Donbass (und Eddy (oder ein anderer), Schmerz Camp, Die Nachkommende, Hawaii …).
Entlastung. Oder Abstand durch Komik. Damit die Welt nicht bricht, sondern sich nur biegt in der Wahrnehmung. Und wir uns nicht nur ängstigen, sondern auch unterhalten. Hello, Dolly! oder Schöne Bescherungen (und Royals, Orpheus in der Unterwelt, Fools at Work, Die Liebe zu den drei Orangen ...).
Es kann im Theater nicht um Meinungen gehen, politische Stellungnahmen, um persönliche Haltungen – aber vielleicht um ein Minimum eines „Liberalismus der Furcht“, ein Vorschlag von Gustav Seibt in seiner Essaysammlung In außerordentlichen Zeiten (auf die ich hier rekurriere). Seibt verweist auf die amerikanische Philosophin Judith Shklar, für die die grundlegende Freiheit, auf der alles andere beruht, die Freiheit von Furcht bedeutet. Frei sein heißt, keine Furcht haben zu müssen vor Grausamkeit, vor Folter, Zwang, Not, Verachtung und Schikane – eine Freiheit gesichert in der Herrschaft des Rechts. Aber auch in der Freiheit von Furcht vor Hunger und Armut – gesichert in der Grundsicherung des Sozialstaats.
Mir gefällt sehr, was Seibt im gleichen Atemzug formuliert: „Im bürgerlichen Alltag, das hat die Pandemie neu bewusst gemacht, gehören Rücksichtnahme, Kooperation, Höflichkeit unter Fremden dazu.“ Dabei geht es eben nicht um die Bildung einer Gemeinschaft, gar einer Volksgemeinschaft, gegen die Zumutungen des blinden Moments. Gerade nicht. Seibt schlägt mit Helmut Plessners Grenzen der Gemeinschaft vielmehr eine Verhaltenslehre des Abstandes und der Freundlichkeit vor – im Bewusstsein, dass das Zusammenleben von Verschiedenen nur mit Miene, Geste, Takt oder anders: mit Spiel, Humor und Ironie möglich ist.
Und damit sind wir wieder beim Theater. Die Maske, die Rolle schützt uns vor Entblößung und Lächerlichkeit. Gesellschaft ist mehr als Gemeinschaft, sie ist erstmal Gruppe und Individuum, Beruf und Klasse, Stadt und Land, aber sie ist auch mehr, Gesellschaft ist ein Rollenspiel, ein Tanz, ein Maskenball. Seibt formuliert es so: „Man kann mehr zum Ausdruck bringen in einer Welt von Umgangsformen als ohne sie.“
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre es, dass wir kooperieren. Zwischen Bühne und Publikum. Und zwischen allen, die hier am Haus arbeiten. Kooperation ist die Brücke zwischen Individuum und Gesellschaft. Wir kooperieren, indem wir unsere Arbeit tun. So gut wie möglich, freundlich und höflich. Das ist vielleicht nicht ganz einfach in diesen Zeiten – in denen sich die Fronten in den Achtsamkeits- und Identitätskämpfen immer mehr verschärfen. Aber das ist ein anderes Thema.
Veröffentlicht am 1. September 2023