L’Amour-mur oder Staatsmacht in Schieflage
Dmitriy Nazarov und Olga Vasileva sind im Rahmen von Kultur on Tour, dem internationalen Jugend-Theaterfestival vom Theater11 zu Gast im Theater Bremen. Ein Text von Viktor Lamert.
Die große Leidenschaft des berühmtesten Serienkochs der russischen Fernsehwelt, Dmitriy Nazarov, ist das gedichtete Wort. Doch mag Poesie in den meisten Fällen eine ungefährliche Beschäftigung sein, für Dmitriy und seine Frau Olga Vasileva hatte sie dramatische Konsequenzen. Vor rund einem Jahr brach das Schauspielpaar in einen Urlaub auf.
Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, dass sich die kurze Auszeit vom Theaterrummel im renommierten Theater MCht, welches hier zu Lande als das Moskauer Künstlertheater bekannt ist, ins Exil verwandeln würde.
Am 13. Januar 2023 meldete sich der Leiter des Theaters bei ihnen telefonisch und bat sie um eine freiwillige Kündigung, andernfalls müsse er sie wegen eines Disziplinarvergehens selbst freistellen. Der Grund für die Aufforderung war augenscheinlich: Zu kritisch hat sich Nazarov auf seinen privaten Medienkanälen zu den Zuständen in Russland geäußert. Von den Propagandisten ist er zu diesem Zeitpunkt längst zum Volksfeind erklärt worden. In den Medien hat sich die Hauptthese behauptet, auf den Intendanten wäre Druck ausgeübt worden: Entweder verlässt das „antipatriotische“ Paar Nazarov/Vasileva die Truppe, oder 29 junge Mitarbeiter des Theaters verlieren ihre vorläufige Immunität gegen die Mobilisierung – mit dramatischen Folgen. Das Paar lenkte ein, kündigte bereits am Folgetag per Einschreiben aus dem Ausland. Begleitet von einer medialen Schmutzkampagne wurden noch im selben Monat sowohl die teils abgedrehten und anstehenden Filmprojekte der beiden gecancelt, wie auch ihre Bühnenprojekte.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich das Paar in den sozialen Medien klar und deutlich gegen die sogenannte Spezialoperation ausgesprochen.
In sarkastischen Gedichten wurde nicht nur die politische Agenda der Verantwortlichen an den Pranger gestellt, sondern auch die martialischen Töne im gesellschaftlichen Diskurs und die Passivität der Einzelnen zugunsten einer Scheinsicherheit. Auch Aufrufe zum zivilen Ungehorsam und Ablehnung der Gewalt wurden darin laut. Mit diesem radikalen Pazifismus unterscheiden sich Nazarov und Vasileva von vielen anderen Dissidenten und Emigranten; aus eben diesen friedliebenden Ansichten lehnen sie es auch ab, selbst Geld an die ukrainische Armee zu spenden.
„10 Jahre Verhandlungen sind mehr wert als ein einziger Tag im Krieg“, wiederholt Nazarov gerne.
Für das Exil wählte das Paar nicht von ungefähr Frankreich. Nazarov, der fließend Französisch spricht, hat bereits 2009 in einer französischen Filmproduktion Le concert den russischen Musiker Alexander Abramovich Grossman verkörpert. In der Erfolgsserie The Kitchen (Kухня) spielt er als Chef eines Sternerestaurants für französische Küche „Claude Monet“ in Moskau eine der Titelrollen. Innerlich trägt diese Figur mit Vorliebe für die haute cuisine und das savoir-vivre feine Züge. Die Kehrseite ist die eines chauvinistischen Schelms, der sich durch die Wirren des postsowjetischen Moskaus erfolgreich durchmanövriert hat und mit allen Wassern gewaschen ist.
Stilsicher wird da auch schon mal die Bouillabaisse mit Vodka kombiniert.
So ähnlich ist auch das gemeinsame Programm von Vasileva und Nazarov L’Amour-mur, mit welchem die Spieler:innen seit ihrem Exil auf Tour sind. Darin werden bekannte Chansons und eigene Gedichte in französischer und russischer Sprache vorgetragen. Inhaltlich arbeiten sich die beiden an den aktuellen Ereignissen ab und versuchen das Bild einer russischen Identität zu zeichnen, die immun gegen das Regime und dessen Propaganda ist.
Unser Autor:
Viktor Lamert wurde in Kasachstan geboren und studierte angewandte Theaterwissenschaften in Gießen und an der HKB Bern. Seit dem Studium realisiert er in unterschiedlichen Kollektiven als Performer, Kurator und Regisseur Theaterprojekte, die Alltagspraktiken mit Wissenschaft und Kunst vereinen. Während des Studiums realisierte er Arbeiten unter der Leitung von unter anderem Lola Arias, Alexander Giesche, Heiner Göbbels, Stefan Kaegi, Paul Norman und Mårten Spångberg. Seit der Spielzeit 2022/2023 arbeitet er als Regieassistent im Schauspiel am Theater Bremen.
Veröffentlicht am 18. Dezember 2023