Leben und Schicksal

Claudia Weber, Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) über Wassili Grossman und seinen Romanepos.

„Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen“. Wassili Grossman setzt diesen Satz auf die erste Seite seines monumentalen Romanepos Leben und Schicksal. Es ist nicht der erste Satz des Romans. Dieses Wagnis wollte der Autor und legendäre Kriegskorrespondent dann doch nicht eingehen, nicht einmal in den Jahren des „Tauwetters“: der kurzzeitigen und zaghaften Liberalisierung des sowjetischen Lebens nach dem Tod Stalins. Zu prosaisch und zu offensichtlich wäre geworden, dass Grossmann nicht nur den Krieg Hitlers und den Terror des Nationalsozialismus schilderte, sondern auch die Gewalt und Menschenverachtung des Stalinismus. Als ersten Satz wählte Grossman „Die Erde lag im Nebel.“ Er hätte seine Zeit nicht treffender erkennen können.

Wassili Grossmans Roman spiegelt das 20. Jahrhundert, so wie sein ganz persönliches Leben und Schicksal.

Er, der sich stets als sowjetischer und lange als kommunistischer Autor verstand, wurde im geschichtsträchtigen Jahr 1905 geboren, in dem mit der ersten Russischen Revolution das Ende des zarischen Russland begann. Zu dieser Zeit lag seine Heimatstadt Berditschew noch im Westen des alten Imperiums. Vor der zweiten polnischen Teilung (1793) hatte die ukrainische Stadt einmal zu Polen gehört und sie bildete das historische Zentrum des chassidischen Judentums in Osteuropa. Grossman und seine Familie waren säkulare Juden. Sie gehörten dem städtischen Bildungsbürgertum an. Der Vater war Sozialdemokrat, in Russland also Menschewik. Nach der bolschewistischen Oktoberrevolution und den Wirren des blutigen Bürgerkriegs studierte Grossman 1923 in Moskau Chemie und wurde Bergwerksingenieur. Die Heimat, die Grossman in seinem Frühwerk In der Stadt Berditschew tief verbunden beschrieb, gehörte infolge des polnisch-russischen Krieges inzwischen zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Sie blieb es bis zur Auflösung des sowjetischen Imperiums und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Dezember 1991. Nach dem Studium ging Grossman in den Donbass, arbeitete kurz in einer Steinkohlemine, wurde krank und liebäugelte doch ohnehin mit dem Schriftstellerdasein. Seine erste Ehe, aus der sein einziges Kind, die Tochter Jekaterina, hervorging, zerbrach. 1932 kehrte Grossman nach Moskau zurück und begann zu schreiben. Es war Maxim Gorki, der Doyen des sozialistischen Realismus, der das Talent erkannte und obschon er die mangelnde Linientreue des jungen Grossman kritisierte, förderte er dessen Karriere und riet ihm, endgültig zum „Ingenieur der Seele“ zu werden, wie Schriftsteller im Stalinismus genannt wurden. Grossman folgte dem Rat. Als der stalinistische Terror im Schreckensjahr ´37 Hunderttausende mordete, trat er dem sowjetischen Schriftstellerverband bei. Vor ihm lag eine Bilderbuchkarriere.

Frontreporter und Chronist des Holocaust

„Ich werde Dir von mir berichten“, schrieb Grossman im Februar 1942 an seinen Vater. „In den vergangenen zwei Monaten war ich nahezu ununterbrochen unterwegs. […] Ich bin dünner geworden. Ich habe mich in der Banja gewogen und es kam heraus, dass ich noch 74 Kilo wiege. Erinnerst Du Dich an mein schreckliches Gewicht vor einem Jahr; 91 Kilo? Meinem Herzen geht es besser. Ich werde ein erfahrener Frontovnik: Ich kann dem Gehör nach sofort beurteilen, was passiert und wo.“ Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch im Juni 1941 hatte sich Wassili Grossman als Freiwilliger an die Front gemeldet. Er blieb dort bis er in Berlin das Ende des Krieges erlebte und wurde zu einem ausgezeichneten Kriegsberichterstatter, berühmt insbesondere für die Reportagen aus der Schlacht um Stalingrad.

Der linkische Jungschriftsteller, dessen „Pistole am losen Gürtel wie eine Axt hing“, zog also in den Krieg.

In die Heimatstadt Berditschew rückte unterdessen die berüchtigte „Einsatzgruppe C“ der Waffen-SS ein und begann mit der Gefangennahme der jüdischen Bürger, die von der Wehrmacht bereits in einem Ghetto zusammengetrieben worden waren. Im September 1941 erfasste das Sonderkommando 4a etwa 16.000 von ihnen, trieb sie auf ein Feld vier Kilometer außerhalb der Stadt und erschoss die Juden von Berditschew. Unter ihnen Grossmans geliebte Mutter, Jekaterina Saweljewna.
Erst zwei Jahre später kehrte Wassili Grossman mit der Roten Armee auf dem Weg nach Westen in seine Heimatstadt zurück und erfuhr von ihrem Tod. Die Schuldgefühle – er hatte es nicht vermocht, sie rechtzeitig zu sich nach Moskau zu holen – begleiteten ihn bis an sein Lebensende. Aus dem Kriegsreporter wurde der Chronist des Holocaust. Im befreiten Vernichtungslager Treblinka führte Grossman Gespräche mit den Überlebenden, die als Bericht Eine Hölle namens Treblinka veröffentlicht, in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Zeugnisse der Anklage genutzt wurden. Gemeinsam mit Ilja Ehrenburg arbeitet er an einem Schwarzbuch über den Massenmord an den sowjetischen Juden.

Verboten und verbittert

Der Krieg ließ ihn nicht mehr los. Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1964 schrieb sich Grossman das Durchlebte von der Seele. Er starb, wie manche sagen, gramvoll und aus Verbitterung angesichts der zermürbenden Widerstände und des bitteren Publikationsverbots, mit dem nicht nur sein opus magnum, der Kriegsroman Leben und Schicksal in der damaligen Sowjetunion belegt wurde. Seine Erlebnisse passten nicht in die politische Kriegserzählung, die allzu lange brauchte, um den Dreck, das Leid und Elend hinter der glänzenden Soldatenheldenfassade zuzulassen. Aus dem linientreuen Schriftsteller war da schon lange ein vehementer Kritiker alles Totalitären geworden. Nicht länger verleugnete Grossmann die persönlichen Erfahrungen aus dem Terror der 1930er Jahre, dem er in Leben und Schicksal einen großen Raum gibt. Die antisemitischen Säuberungen des späten Stalin schließlich erschütterten seinen Glauben an die kommunistische Sowjetunion und festigten, andererseits, sein Selbstverständnis als Jude. Das „Schwarzbuch“, das Grossman und Ehrenburg im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) vorbereiteten, durfte nicht gedruckt werden und erschien später in einer stark zensierten Fassung. Das JAK wurde aufgelöst, die führenden Mitglieder erschossen. In der offiziellen Geschichtsschreibung der Sowjetunion existierten nur ermordete Sowjetbürger. Grossman hat die politischen Deutungsgebote nicht bedient.

Lebens- und Schicksalswerk

Leben und Schicksal ist ein überwältigendes Buch. Völlig zu Recht wird der Roman in einem Atemzug mit Lew Tolstois Epos Krieg und Frieden (vojna i mir) genannt. Für Grossman war das Epochenwerk über den antinapoleonischen Krieg und die russische Welt – das Wort „mir“ steht im Russischen sowohl für „Frieden“ als auch für „Welt“ oder „Gemeinschaft“ – tatsächlich das große Vorbild. Nicht der sozialistische Realismus Maxim Gorkis, sondern der kritische Realismus Lew Tolstois inspirierten ihn. „Leben und Schicksal“ von Wassili Grossman überschreitet die Grenzen von Raum und Zeit. Seine Wucht entfaltet der Roman an den Stellen, an denen er über den konkreten historischen Kontext hinausgeht und das menschliche Leben in seinen tiefsten Momenten so beschreibt, dass einem die Lektüre den Atem verschlägt. Die Feldärztin Sofja Ossipowna Lewinton stirbt in der Gaskammer eines deutschen Vernichtungslagers schließlich als Mutter, den Jungen David, den sie auf der Deportation zu beschützen gelernt hat, im Arm haltend. Ljudmila Nikolajewna, die Ehefrau des Physikers Strum, reist in das Frontlazarett, wo sie ihren Sohn nur noch begraben kann. Für diese Toten findet Grossman kein Verzeihen. Der Krieg erfährt bei ihm keine Gnade. „Alle Menschen sind vor der Mutter, die ihren Sohn im Krieg verloren hat, schuldig und werden, solange die Geschichte der Menschheit andauern wird, vergeblich versuchen, Freispruch von ihr zu verlangen.“
Fast sechzig Jahre nach dem Leben und Schicksal Grossmans ist Berditschew, die geliebte Heimatstadt 100 Kilometer westlich von Kiew, wieder Kriegsgebiet.

Den vollständigen Text finden Sie im Programmheft zu Leben und Schicksal.

 

Alle Text- und Briefzitate stammen aus der Taschenbuchausgabe 2008, List-Verlag Berlin.
Grossmans Brief an den Vater und die Beschreibung Grossmans als junger Kriegskorrespondent stammen aus Antony Beevor, Luba Vinogradova, eds., A Writer at War. Vasily Grossman with the Red Army 1941 – 1945, London: Pimlico, 2006. Deutsch: Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941-1945, C. Bertelsmann, 2007

Verwendete Literatur:
Jochen Hellbeck, Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert, Nachwort, in: Wassili Grossman, Leben und Schicksal, Berlin 2008, S. 1069-1085.
Jochen Hellbeck, Das Feuer von Stalingrad, Vorwort, in: Wassili Grossman, Stalingrad, Berlin 2021, S. 7-24.
Jürgen Zarusky, „Freiheitliche Erinnerung“. Vasilij Grossman und die europäische Erinnerung an Totalitarismus und Zweiten Weltkrieg, online: www1.ku.de/ZIMOS/forum/docs/Zarusky.htm

 

 

 

Veröffentlicht am 26. September 2022