Lesezeit: City of Literature – und noch einmal Israel

Die November-Kolumne von Michael Börgerding.

Ich kam von unserer umjubelten Premiere Orpheus in der Unterwelt nach Hause und hatte eine lange Mail von Armin Petras in meinem Postfach. Auf der Premierenfeier hatte ich noch versucht, vor meiner Dankesrede die Operette und überhaupt Unterhaltung in diesen Zeiten zu behaupten, mit unserem Gast Lilo Wanders die gemeinsame Arbeit an Freiheit, Wahnsinn und Anderssein zu verteidigen gegen die Hamas, die Hisbollah und die Mullahs im Iran. Und daran erinnert, dass Jakob Offenbach Sohn eines Kantors einer Synagoge in Köln war.

Armin schrieb mir zu meinem Israel-Text auf dieser Seite und er begann mit „Wie immer kann ich nur aus eigener Erfahrung denken.“ Und erzählte von seinem von den Nazis erschlagenem Großvater, der sich als Gymnasialdirektor weigerte, jüdische Schüler aus dem Unterricht zu entfernen, von seinem Vater, der „deswegen (vor allem) Kundschafter wurde für den vermeintlich antifaschistischen Staat.“ Von seinem Treffen 1996 in Tel Aviv mit Assi Dayan (Sohn von Mosche Dayan), dessen Film Life According to Agfa er für die Bühne adaptierte. „Wir haben eine Nacht verbracht, im Café, wo die Story wirklich spielte, ein Ort, wo linke Juden, linke Künstler, Palästinenser sich trafen. Damals war klar, dass das Palästinenserproblem irgendwie da ist, aber gelöst werden wird. Die Neu-Juden aus Russland waren das viel größere Problem.“ 2001 war Petras im Gaza-Streifen, „dort auf dem Dach geschlafen, schlechtes Essen, Dreck, keiner hat keinen verstanden, aber ein wunderbarer Blick aufs Meer ... dann in Jerusalem, du spürst es, auf der einen Seite die arabische Welt, auf der andren Seite der Beginn des Okzident.“

Und dann beschreibt Petras, wie er zum ersten Mal die Auseinandersetzungen, die jetzt zwischen so vielen, auch zwischen uns in den Theatern, tobt, als „Schock“ erlebte: „2016 in Oslo/Nationaltheater. Mein alter Freund, der Intendant des Habima, Ilan Ronen, saß auf dem Podium, am Abend sollte NATHAN laufen, von ihm inszeniert, als Gastspiel, unten eine Anti-Israel-Demo vor dem Haus ... Wir, die Intendantin (drei Wochen später ging sie in die Psychiatrie), einige andere und ich saßen da und sagten natürlich ‚Theater muss sein!‘ und ‚Das sind doch die Guten‘, die anderen: ‚Das ist ein Arm der Apartheid-Regierung – das darf nicht sein.‘ Die Vorstellung fand nicht statt, die Intendantin kam nicht mehr in ihren Job zurück. Sie hatte Angst vor den starken Pro-Palästina-Stimmen in ihrem Land, Angst, das Falsche zu machen, Angst vor noch mehr Konflikten.“

Ich war in meinem Leben noch nie in Israel oder Palästina. Alles, was ich weiß über Israel, weiß ich aus Büchern. Nicht aus eigener Erfahrung. Und anders als Petras kann ich nicht nur aus Erfahrung denken. Ich muss mich eher zwingen, dem Erfahrungsdruck der Anderen Stand zu halten, versuche, den authentischen Bildern, den persönlichen Erlebnissen, dem Betroffensein zu misstrauen, um andere Erlebnisse, Sichtweisen und Erfahrungen mit einfließen zu lassen in meine Sichtweisen, meine Haltung, mein Verhalten. Alles, was ich weiß über Israel, weiß ich aus den Romanen von Amos Oz, Zeruya Shalev oder David Grossman. Und aus einer großen, dicken Biografie über David Ben Gurion, die mir ein Nachbar, ein Baptist (!) im katholischen Lohne, zu meiner Firmung schenkte. Diaspora war für mich damals ein Begriff für das Leben der Katholiken in Gegenden, in den die Menschen in der Mehrheit evangelisch waren, Delmenhorst zum Beispiel, und für die die Kollekte im Gottesdienst war. Den Begriff der „jüdischen Diaspora“ lernte ich mit diesem wirklich sehr dicken Buch zum ersten Mal kennen. Und alles über jüdisches Leben, Denken, Fühlen, über jüdischen Humor, jüdischen Sex heute lernte ich von Saul Bellow, Philip Roth und Jonathan Safran Foer. Und alles über die Netanjahus im Übrigen von Joshua Cohen.

Von Walter Benjamin, über den ich meine Abschlussarbeit im Studium geschrieben habe, gibt es einen kleinen Text Erfahrung und Armut. Es geht um das, was man nicht mehr durch Erfahrung verstehen und abgleichen kann mit dem, was man bisher erlebt hat:  „Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.“ Gershom Scholem, der deutsch-israelische Religionshistoriker und große Leser der jüdischen Kabbala, ein Freund von Walter Benjamin, nahm schon im September 1923 seine Auswanderung nach Palästina in Angriff, eine Entscheidung für den politischen Zionismus. Er konnte und wollte als Jude kein Deutscher bleiben. In Palästina lebte er als gläubiger, nicht orthodoxer Jude. Politisch verstand er sich weiter als Mitglied der Linken, sein Sozialismus trug dabei libertäre und staatskritische Züge. Scholem versuchte immer wieder, seinen Freund Benjamin davon zu überzeugen, ihm nachzukommen. Benjamin, der sich nicht nur von seinen Büchern nicht trennen wollte, blieb, floh dann vor den Nazis nach Paris, fand ein neues Zuhause in der Bibliothéque nationale des France, in der bis 1939 an seinem Passagen-Werk arbeitet. Sein letzter Text, die 18 Thesen Über den Begriff der Geschichte entstanden nach Benjamins Entlassung aus einem französischen Internierungslager, in das er als Deutscher bei Kriegsbeginn inhaftiert worden war. In der neunten These erkennt Benjamin in einem Gedicht seines Freundes Scholem und in Paul Klees Skizze Angelus Novus den Engel der Geschichte, welcher auf die Vergangenheit als einzige Katastrophe zurückblicke und die Verwüstungen heilen möchte, aber vom Sturm in die Zukunft geweht werde. „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Das deutschsprachige Manuskript gab Benjamin, inzwischen nach Marseille geflohen, an Hannah Arendt. Walter Benjamin starb im September 1940 auf der weiteren Flucht im spanischen Grenzort Portbou, er beging Selbstmord. Natan Sznaider ist ein israelischer Soziologe, der in seinem Buch Fluchtpunkte der Erinnerung – Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus erinnert an die Debatten, die unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust und der Unabhängigkeitsbewegungen geführt wurden von Karl Mannheim, Hannah Arendt, Claude Lanzmann, Frantz Fanon und Edward Said. Darin gibt es ein kleines Kapitel über Hannah Arendt und ihre Kafka-Lektüre. 1944 hat Arendt zwei Essays in den USA über Franz Kafka veröffentlicht, in einem schreibt sie: „Seine Genialität, ja seine spezifische Modernität war es gerade, dass sein Vorhaben nur darauf ging, ein Mensch unter Menschen, ein normales Mitglied einer menschlichen Gemeinschaft zu sein. Es war nicht seine Schuld, dass diese Gesellschaft keine menschliche mehr war und dass der in sie verschlagene Mensch, wenn er guten Willens war, wie eine Ausnahme, wie ein ‚Heiliger‘ – oder wie ein Irrsinniger wirken musste.“ Als sie diesen Aufsatz schrieb, „wusste sie“, schreibt Sznaider, „dass die Zeit der Juden in Europa abgelaufen war.“

Wir brauchen Literatur, um die Welt zu verstehen. Der Welt ist nicht so einfach beizukommen. Will man von ihr erzählen, braucht es Mittel. Und wie der Traum als Hüter des Schlafes Bilder erzeugt, so produziert auch die Literatur Bilder. Die Urfunktion des Bildes ist Verbildlichung des Unbildlichen, Darstellen des Undarstellbaren, Fassbarmachung des Unfassbaren. Darum geht es beim Lesen: Verschiebung, Verdichtung und Umkehrung, damit die Wirklichkeit nicht nur als Abbild, sondern als verdichtete Vorstellung zum Vorschein kommt. Wir brauchen Romane wie Die Erfindung des Jazz im Donbass von Serhij Zhadan, den Armin Petras im Februar auf die Bühne bringen wird. Wir brauchen weiter Das achte Leben (Für Brilka) von Nino Haratischwili, inszeniert von Alize Zandwijk, um etwas zu verstehen über das das letzte Jahrhundert, das „rote Jahrhundert“, nicht nur in Georgien. Ich freue mich sehr, dass wir jetzt im Frühjahr den großen Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht von David Grossman machen werden. Und ich freue mich auf all die Autorinnen und Autoren, die im November zu Gast bei uns sein werden und aus ihren Büchern lesen werden, Dinçer Güçyeter, Tanja Maljartschuk, Ilija Trojanow, Maarten Asscher, Deborah Feldman, Tijan Sila, Jakob Graf, Andrej Chadanowitsch, Alhierd Bacharevič, Radka Denemarková, Daniel Kehlmann und der Buchpreisträger Tonio Schachinger. Wie schön, dass es die globale° gibt und dass sie immer wieder zu Gast bei uns ist. Und wie schön, dass die Kafka-Band wieder da ist! Und ich gratuliere allen ganz herzlich, die sich für Bremen als CITY OF LITERATURE eingesetzt haben!

Am Ende noch einmal ein Satz aus der Mail von Armin Petras, der anders als er behauptet, nicht nur ein mutiger Denker und Schreiber aus Erfahrung ist, sondern auch ein großer Leser. Es ginge um das Dranbleiben, schreibt Armin, Dranbleiben am „sagen wir mal, Projekt Denken. Vernunft, Differenzen beschreiben, vielleicht einfach auch, um sich selbst treu zu bleiben und nicht verrückt zu werden.“

„Bedenkt das Dunkel und die große Kälte / In diesem Tale, das von Jammer schallt.“ Brecht, Die Dreigroschenoper

Veröffentlicht im November 2023