Leseprobe aus „Schildkrötensoldat“

Melinda Nadj Abonji liest gleich zwei Mal im Theater Bremen. Eine Lesung für Schulklassen und eine im Abendprogramm: Der Suhrkamp Verlag war so freundlich, die Veröffentlichung einer Leseprobe ihres neuesten Buchs zu gestatten.

Er stand da, beim Hühnergatter, hatte vielleicht gerade ein Ei getrunken oder irgendwas, das gar nichts mit Eiern oder Wasser oder Milch zu tun hat. Den wolkenlosen Himmel musste Zoltán getrunken haben, mit seinem endlosen Blau. Seine Augen waren aufmerksam, weit offen in seinem breiten, blassen Gesicht. Der Rotz klebte an seiner Nase – er unternahm nichts, um ihn abzuwischen. Mit Hühnern konnte er umgehen, mit Katzen, Schweinen. Hunde hat er gemieden, außer einen, der Tango hieß. Jeden Morgen ein Ei für seinen Tango. Zoltán stand da, beim Hühnergatter, das huhnwarme Ei in der Hand. Ich habe ein warmes, frisches Ei für dich. Ich habe etwas Traumschönes für dich, Tango!

Zoli, wisch dir den Rotz ab! Hör auf, mit dem Hund zu reden!, ruft seine Mutter vom Garten herüber.

Tango, eine ganze Welt gebe ich dir zu fressen!, und Zoli rührte sich nicht. Sein Rotz glänzte in der Sonne. Tango drehte sich wie ein Derwisch und bellte dazu. Sein hohes Gebell versetzte auch die Wäscheleine in Erregung, die durch den Hof gespannt war. Und Zoli streckte seine Hand, darauf das Ei – ein Ei so weiß wie seine Haut, wie die aufgehängte Wäsche. Schauspiel des Alltags. Ein wie verrückt sich drehender Hund, ein neunjähriger Junge, mit unmöglicher Ruhe den Moment des Zuschnappens hinauszögernd, die schwarz-zotteligen Beine des Hundes, der Junge, verdreckt und erhaben. Die Sonne, um die sich der Hund linksherum, rechtsherum drehte.

Gib ihm das Ei, los mach schon, worauf wartest du noch?

Zoli stand da, zuckte nicht einmal mit den Wimpern, er reagierte nicht, nicht im Geringsten. Nur um seinen Mund spielte ein winziges Lächeln, und die Maiskolben hatten Augen, die Hühner applaudierten, der Staub wirbelte auf vor Begeisterung. Zoli wartete. Bis ein kleiner, hitziger Dämon ihn in die Wade biss und er das Ei endlich in die Luft warf, in den blauen Himmel hinauf, und Tango, der Hund, seine Drehungen sofort unterbrechend, schnappte mit einem Satz nach dem Ei – der Welt, die im nächsten Augenblick mit einem hellen, harten Geräusch auf der Steinplatte zerplatzte. Nächstes Mal schaffst du es, ganz bestimmt erwischst du es nächstes Mal in der Luft, sagte Zoli, während der Hund das Ei gierig vom Boden aufschleckte.
Nicht wahr, Hanna, nächstes Mal schafft er es? Zoli blickte zu mir, und weil ich so überrascht war, dass Zoli mich ansprach, konnte ich nicht antworten, und er kam auf mich zu mit seinen aufgesperrten Augen. Er stellte sich ganz nah zu mir hin. Mir schwindelte, als er sagte, ich weiß genau, wie es ist für meinen Hund, wenn seine Zunge das Ei vom Boden aufschleckt, aber sicher, das weiß ich ganz genau.

Zoltán. Der Sohn meiner Tante Zorka.

Ich habe dich vor Jahren zuletzt gesehen oder gestern, als du mir wieder erschienen bist, nachts. Nein, geträumt habe ich nicht. Einen Traum kann man beiseiteschieben, als „Traum“ abtun. Ich spreche mit dir, aber du gibst mir keine Antwort. Ich weiß – da, wo du bist, schweigt man lieber. Oder täusche ich mich? Kann ich dich nicht hören? Ist es möglich, die Ohren zu schulen, um das zu hören, was nicht hörbar ist? Empfänglich zu werden für Schallwellen, die den Fledermäusen vorbehalten sind, vor allem aber den Motten, deren Hörorgane im Brustbereich liegen, zwei Hohlräume, die, mit dünnen Membranen bedeckt, so filigran gebaut sind, dass sie höchste Frequenzen mühelos wahrnehmen können – leiseste Geräusche, die vom menschlichen Ohr nicht einmal in zehnfacher Verstärkung gehört werden.
Ich bin keine Fledermaus, keine Motte, aber ich sehe dich, du erscheinst mir. Erscheinen, was für ein Wort. Du schaust mich an, mit demselben Blick, mit dem du mich früher angeschaut hast, als wir Kinder waren. Aber vielleicht warst du gar nie ein Kind. Obwohl ich älter war, hatte ich immer eine bestimmte Furcht vor dir, und trotzdem habe ich es zugelassen, dass deine zuckerstaubigen Lippen meine berührt haben, als wir an einem Frühlingstag auf deinem Bett palacsinta gegessen haben. Wir heiraten, hast du gesagt, obwohl die Heirat zwischen Cousine und Cousin zuoberst auf der Sündentafel des Pfarrers steht. Warum schließt du deine Augen nicht beim Küssen, habe ich dich gefragt. Weißt du was, Hanna, ganz bestimmt ist es so, dass ich auch mit offenen Augen schlafe. Und da war sie schon wieder, meine leise Furcht vor dir, meine Lust, dich nochmals zu küssen.

Wir haben uns nicht mehr geküsst, nie wieder, nicht einmal auf die Wangen. Wir haben uns oft angeschaut, stumm, und ich war immer die Erste, die aufgegeben hat. Ich müsste ein anderes Wort verwenden, weil „aufgeben“ einen Kampf suggeriert, aber wir haben nicht mit Blicken gekämpft, jedenfalls du nicht. Ich habe weggeschaut, und du hast erzählt. Die Schule zum Beispiel sei ein Hindernis aus Zahlen und Buchstaben. Und ganz bestimmt sei es nicht nützlich, wenn man weiß, dass zwei und zwei vier gibt, man könne doch nicht behaupten, zwei Stühle seien dasselbe wie zwei Nüsse. Im Klassenzimmer gab es nur Gelächter, wenn Zoli eine Frage stellte, und der Lehrer meinte, er solle die Fragerei lieber in seinem Kopf behalten, und so fragte Zoli nur noch, wenn er es gar nicht merkte, sein Mund wie von selbst zu reden anfing.
Aber Hanna, du weißt doch, wovon ich spreche?
Ich wusste es und wusste es nicht.

Wir saßen auf Zolis Bett, einer aufklappbaren Couch. In ihrem Bauch wohnen unterhaltsame Wesen, sagte Zoli und zupfte die Kissen zurecht, bevor er mir einen gepolsterten Platz anbot, an einem Sommertag, an dem ich unangemeldet zu Besuch kam. Wann immer ich an die schäbige Tür klopfte, die laute Stimme von Zorka mich bat, einzutreten, wann immer ich die angelehnte Tür öffnete, die Schuhe abstreifte und den Fliegenvorhang mit einer zaghaften Handbewegung anhob, hatte ich, nicht nur an jenem Sommertag, das Bedürfnis, das fleckige, mit Flicken ausgebesserte Stück Stoff wieder fallenzulassen, die Schuhe wieder anzuziehen, mich aus dem Staub zu machen.

Als hätte ich damals schon geahnt, dass es in diesem Haus nicht nur nach Zigaretten, Kaffee, Schweiß und Eisen roch, sondern nach Schicksal – wie erhaben und furchterregend es doch klingt, das Schicksal, unabänderlich, groß, die von Gott geschickte Fügung; und wie verlogen, alles einer das menschliche Leben lenkenden Macht zuzuschieben, die mit der eigenen Verantwortung, dem eigenen kleinen Leben nichts zu tun hat, und ins Allmächtige auszuweichen, wenn es darum ginge, menschliche Antworten auf menschliche Fragen zu finden. Mittlerweile weiß ich, dass oft von Schicksal die Rede ist, wenn es eigentlich darum ginge, zu schweigen. Oder zu erzählen. Nein, damals habe ich nicht über das Schicksal nachgedacht. Ich fürchtete mich nur vor dem, was mich hinter dem Vorhang erwartete, und vermutlich ahnte ich, dass Armut nie folgenlos blieb.

Auszug aus Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat, 2018 bei Suhrkamp erschienen, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej, Serbien, geboren. Anfang der siebziger Jahre übersiedelte sie mit ihrer Familie in die Schweiz. Sie lebt als Schriftstellerin und Musikerin in Zürich. Für ihren Roman Tauben fliegen auf erhielt sie 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis.

 

Veröffentlicht am 14. Februar 2023