„Man muss dem Stück eine übermäßige Liebe entgegenbringen“

Über Romantik, Liebe, Ent-Täuschung und Trost. Die Komponisten Sebastian Vogel und Thomas Kürstner über die Arbeit an der Winterreise im Gespräch mit der Dramaturgin Frederike Krüger.

Es ist kalt, die Nacht bricht über ihn herein – über einen Wanderer, dem die Welt abhandengekommen ist. Seine Geliebte hat ihn verlassen, nun gibt es nichts mehr, was ihn noch hält, am Leben und überhaupt. Außer vielleicht die Musik? Als Franz Schubert sich 1827 an seinen Liederzyklus machte, war er selbst ein Wanderer ohne Ziel und Heimat. „Schubert war einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen“, erinnerte sich Schuberts Freund Josef Spaun an einen Abend, von dem noch niemand ahnte, dass dort Musikgeschichte geschrieben werden würde. „Eines Tages sagte er zu mir, ‚komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses bei anderen Liedern der Fall war.‘ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft.“ Das war ein Jahr vor Schuberts Tod, im Herbst 1827. Nach Texten von Wilhelm Müller hinterließ der Komponist der Welt ein klingendes Kaleidoskop des Gefühls zwischen Leben und Lieben, Tod und Verklärung.

Eine Wanderung der menschlichen Existenz, ausgesetzt der eigenen Witterung.

Noch heute hält die Winterreise gleichermaßen eisig wie tröstlich Einzug in die Menschen. Am Theater Bremen überschreiben nun die beiden Komponisten Sebastian Vogel und Thomas Kürstner diese Reise durch eine einsame Winterlandschaft. Ihre erste Begegnung mit dem zeitlos aktuellen Stück? „Ich kann mich sehr gut erinnern, wann ich mich das erste Mal bewusst mit der Winterreise befasste“, sagt Sebastian Vogel auf meine Frage. „Ich hatte meiner Mutter eine Schallplatte geschenkt, weil ich wusste, dass sie die Musik so mag. Da war ich ungefähr 13 Jahre alt.“ „So kannte ich die einzelnen Lieder bereits, weil die bei uns Zuhause gehört wurden.“ Fandst du das gut? „Ich fand das gut, im Gegensatz zu meinem Vater, der war eher so der Bach-Apologet. Dem war es zu romantisch, zu düster, zu verklärt.“

Romantisch, düster, verklärt.

Treffender lassen sich die Lieder von Schubert wohl nicht beschreiben, der, ganz der Romantik entsprechend, in der Natur Bilder für innere Zustände suchte. In Bäumen, die kaum noch Blätter tragen, in deren Zweigen der Tod ruft, im vereisten Fluss, der still dort liegt, unter dessen eisiger Oberfläche gewaltiges Rausches zu erahnen ist, Eisblumen, die an verlorene Frühlingstage und Träume erinnern … „Mir war das auch zu romantisch“, wirft Thomas Kürstner ein. Im Sinne von zu künstlich?, frage ich. „Und auch ein bisschen zu männlich“. Ja, da ist ein einsamer Wanderer, der Pfade durch sein enttäuschtes Leben sucht, sie nicht so richtig findet, und auch nicht seinen Platz im Leben noch Hoffnung. „Dieses Leiden, das war nicht so mein Thema mit Anfang 20“. Doch die Musik mochten beide.  

Die Musik nehmen sich Vogel und Kürstner nun also vor, um sie für Bremen in neuem Gewand erscheinen zu lassen.

Ein nicht risikofreies Unterfangen, gibt es doch viele Erwartungen, wie so „ein Schubert“ zu klingen hat. „Die Rezeptionsgeschichte der Winterreise ist gigantisch und ja auch noch nicht abgeschlossen“, meint Thomas Kürstner. „Aber genau das hat uns gereizt, dass das Stück so bekannt ist und die Gefahr des Scheiterns bestand.“ Und wie ging es Sebastian Vogel? „Nach meinem pubertierenden Weltschmerz, den ich mit der Winterreise hatte, hatte ich sie ein bisschen aus den Augen verloren. So hat es mich dann sehr gefreut, als Armin Petras uns beide fragte, ob wir die Winterreise zusammen machen wollen.“ „Man muss dem Stück eine übermäßige Liebe entgegenbringen“, wirft Thomas Kürstner schnell ein, „und es ist schön, dass wir dieser Musik so nahekommen dürfen.“ „Die Musik schwimmt im kollektiven Bewusstsein weiter durch die Zeit“, sagt Sebastian Vogel. „Sie lässt sich durch Bearbeitungen nicht im Kern zerstören und ist stärker als wir“. Die beiden Komponisten haben sich für eine besondere Orchestrierung entschieden: Viola, Kontrabass, Klarinette und Vibraphon/Marimbaphon.

„Wir wollten den Klaviersatz, der bei Schubert sehr komprimiert ist, auf eine gewisse Art entblättern. Blüte für Blüte öffnen und jedes Detail neu entdecken“, so Thomas Kürstner.

„Wir haben uns für Instrumente entschieden, die wir selbst gerne hören. Wir probieren vorher vieles aus, gehen Ton für Ton die Partitur durch und irgendwann wird es fast alternativlos, weil jedes Instrument eine eigene Farbe mitbringt. Sebastian Vogel fährt fort: „Uns war wichtig, dass der Gesang, also die Melodie, bleibt, wie sie ist und die neuen Farben durch die Instrumentation angefügt werden.“ Bei dem Dialog zwischen Singstimme und Klavier, nun in der Bearbeitung von Sebastian Vogel und Thomas Kürstner, kommt eine neue Ebene hinzu, ebenso in der Inszenierung von Armin Petras, in der vier Menschen das „lyrische Ich“ verkörpern:

„Die Gefühlswelt der menschlichen Existenz fächert sich für uns auf. Ich glaube, darum geht es in der Winterreise. Um die Liebe und die Vielfältigkeit der Liebe. Die Polyamorie des Lebens.“

Für Sebastian Vogel ist da aber auch noch etwas Anderes: „Für mich geht es auch um Enttäuschung, aber im besten Wortsinn: Ent-Täuschung; also feststellen zu müssen, dass alles, was du schön findest und liebst, irgendwann vorbei sein kann. Für mich ist diese Enttäuschung positiv besetzt. Es ist so, als würde ein Schleier verschwinden und man kann endlich klar sehen, die Menschen und die Dinge. Das ist eine der ureigensten Erfahrungen beim Durch-die-Welt-Gehen. Schubert hat ein Jahr vor seinem Tod eine Reise komponiert, die fast wie ein Zeitraffer des Lebens ist, vom Anfang bis zum Tod. Diesen Weg beschreiten wir alle. In der Winterreise können wir unsere Erfahrungen, die wir auf dem Weg machen, miteinander teilen. Das ist etwas Schönes und etwas Tröstendes. Eben diesen Trost können wir auch verschenken mit dieser Winterreise.“ „Ja“, schließt Thomas Kürstner, „die Schönheit der Erkenntnis, die die Enttäuschung bietet. Wer das begreift, der ist im Menschsein ein Stück weitergekommen.“

 

 

Veröffentlicht am 2. Dezember 2024