Logbuch: Mir so nah

Ein Virtual Reality Experiment, Kooperationsprojekt zwischen dem Theater Bremen und dem Master Studio System + Interaktion der HfK Bremen. Ein Text von Dramaturgin Theresa Schlesinger.

September 2020: Zu Beginn eines jeden Projekts steht eine Form der Begegnung. Wir haben Glück und erwischen einen günstigen Zeitpunkt. Ein Live-Treffen mit Prof. Tanja Diezmann und Markus Walthert von der Hochschule für Künste Bremen unter blauem Himmel ist der Startpunkt für unser Kooperationsprojekt. Die Idee steht bereits: Wir möchten gern eine Kooperation mit dem Masterstudio System + Interaktion eingehen, um gemeinsam zu erforschen, wie ein Theatererlebnis im digitalen Raum weiter gedacht werden kann. Das Masterstudio widmet sich gestalterischer Fragestellungen komplexer analoger und digitaler Systeme, sowie der Interaktion zwischen Menschen und Systemen. Als Partner*innen gewinnen wir Prof. Tanja Diezmann (Professorin für Interaction Design an der HfK, sie arbeitet am Entwurf neuer Wirklichkeiten sowie an der Verschränkung von Visualisierung und Interaktion) und Markus Walthert (Leitung Interaction Lab, in dem Studierende Interaktionsideen weiterentwickeln können und auch wir gemeinschaftlich arbeiten werden) und vor allem ihre Studierenden: Sarah Keilbach, Janina Ebner, Thi Laura Mai Nguyen Chi, Lisa Schramm, Céline Schmidt, Nils Pisarsky, Jan-Marek Lappe.Was haben wir vor?

Im Laufe des Wintersemesters 20/21 erforschen die Studierenden des Masterstudios gemeinsam mit einer Gruppe Theaterschaffenden die Möglichkeiten des digitalen Raums und entwickeln neue partizipative Formate.

Uns interessiert, wie wir eine Erweiterung des Theatererlebnisses im digitalen Raum denken können. Ein paar Monate Erfahrung mit Theater im Lockdown hatten wir bereits. Aber diese Kooperation ist nicht nur eine Corona-Kooperation. Wir wollen weiter denken. Wir fragen uns: Kann man die Gefühle einer Aufführung visualisieren? Wir wollen untersuchen, welche Möglichkeiten der Visualisierung im Bühnenraum umzusetzen sind und welche wir davon mit Zugewinn und möglicher Übersetzung in Räume außerhalb des Theaterraums übertragen können.

Wir möchten die analoge Begegnung mit dem Publikum nicht nur in den virtuellen Raum übertragen, sondern ihr einen eigenen künstlerischen Wert jenseits der rein technischen Übermittlung verleihen.

November 2020: Die Lage hat sich verändert. Als größere Gruppe dürfen wir nicht mehr in einem Raum zusammenkommen. Das nächste (und erste) Treffen mit dem gesamten Team des Masterstudios findet also notgedrungen digital statt. Viele kleine Kacheln leuchten auf dem Bildschirm und alles scheint möglich in diesem Moment. Der Zauber der ersten Begegnung fliegt durch die Kabel und projiziert sich auf den flackernden Bildschirmen. Doch gerade das macht es schwer. Wo wollen wir genau hin? Wir erzählen vom Theater im Lockdown. Von den Wünschen nach neuen Formen im Digitalen Raum. Von der Streaming-Müdigkeit. Von unseren Recherchen und Projekten. Eines davon ist ein Stück über das Artensterben: REVUE. Über das Sterben der Arten welches gerade rund um den Regisseur Felix Rothenhäusler und sein Team entsteht. Darin erforscht das künstlerische Team das Ausmaß des Artensterbens und die Verbindung zum Menschen. Eine umfassende Recherche geht der Arbeit voraus, die Proben sollen im kommenden Jahr beginnen. Ein geeigneter Nährboden für ein digitales Format, welches die Produktion im virtuellen Raum erweitert? Der Fokus des Perspektivwechsels beschäftigt uns sehr. Wie können wir etwas über die nicht-menschliche Welt erzählen ohne den klassischen Blick einzunehmen und die Geschichte der Tiere zu vereinnahmen?

Wie lässt sich Aussterben erfahrbar machen und ist es möglich die eigene, die menschliche Perspektive zu verlassen und für einen Moment zum Tier zu werden?

Dezember 2020: Während das Theater die Türen noch immer geschlossen halten muss, wird hinter den Bildschirmen weiter gearbeitet. Die Gruppe widmet sich der Produktion REVUE. Über das Sterben der Arten und schlägt vor eine Virtuelle Welt dafür zu schaffen. Wir begeben uns nun also auf eine Reise in die Virtuellen Welten. Was für Möglichkeiten sich hierbei eröffnen, ahnen wir zu Beginn nur im Ansatz. Doch die Ideen konkretisieren sich und bald steht fest: Um auf eine gemeinsame Fragestellung zu kommen, wird die (virtuelle) Materialmappe der REVUE freigegeben und wir müssen gemeinsam inhaltliche Verbindungen schaffen. In der Materialmappe: Auszüge aus Donna Haraways Buch Unruhig bleiben, ein Aufsatz von John Berger über Warum wir Tiere ansehen, ein Porträt der Stellerschen Seekuh, Gedanken zum Anthropozän, eine Liste ausgewählter ausgestorbener Arten zusammengestellt vom NABU, ein Text von Judith Schalansky über den Kaspischen Tiger, eine bunte Grafik über die Evolutionsgeschichte und vieles mehr. Dieser Ordner ist jetzt zugänglich und es werden Fäden geknüpft.

Fragen und Herausforderungen ziehen Verbindungslinien zwischen der Arbeit an dem Theaterstück und der an einer Virtuellen Realität.

Wie lässt sich das große Artensterben erfahrbar machen? Wie kann eine künstlerische Übersetzung aussehen, eine Ästhetik des Verschwindens? Wie fühlt es sich an, die Welt aus anderen Augen zu sehen? Wie können wir die Perspektive wechseln und eine Nähe zu den ausgestorbenen Arten anders erfahrbar machen? Wir sind verzweigt durch diese Gedanken. Und tatsächlich: Ende Dezember steht die Zwischenpräsentation und wir dürfen zum ersten Mal eintauchen in eine mögliche virtuelle Welt.

Januar 2021: Wie kann eine digitale Erweiterung einer Produktion aussehen, die noch gar nicht begonnen hat zu proben? Während der Lockdown sich ausweitet und die Arbeit an der REVUE auf die Recherche und vorbereitende Gespräche über zoom beschränkt ist, geht das Masterstudio System + Interaktion mit den Virtuellen Welten große Schritte. Wir tauschen uns aus und merken, wie unglaublich wertvoll diese neue Perspektive auf unsere Theaterarbeit ist. Im Fokus der Virtuellen Welt: Die abstrakte Visualisierung von Habitatzerstörung, (Luft)Verschmutzung, Rodung des Regenwalds und darin: die Tiere.

Wie fühlt sich gejagt werden an? Was heißt es Vertreibung zu erleben, Luftverschmutzung und die stetige Verkleinerung des eigenen Lebensraums?

Die virtuelle Realität bietet Möglichkeiten, die sich im Theaterraum nicht herstellen lassen. Ein Perspektivwechsel wird ganz automatisch erzeugt, wenn sich die Umwelt durch die VR-Brille ändert. Im Gegensatz zum Theaterraum, in dem die unfassbare Dimension des menschengemachten Artensterbens erfahrbar gemacht werden soll, ermöglicht es das VR-Erlebnis ganz konkret und tief einzutauchen in das Leben eines einzelnen Tiers und die Erfahrung des Aussterbens, die dieses Tier wohl gemacht hat und machen könnte. Beide Herangehensweisen haben eins gemein:

Wir als Menschen und Zuschauende kommen nicht umhin uns selbst und unsere Perspektive zu hinterfragen.

Februar 2021: Im Februar erreichen wir einen Endpunkt. Das Semester ist bald vorüber und so ist es Zeit für einen Abschluss. Was vor sechs Monaten begann als loses Brainstorming begann, hat sich mittlerweile in ganz konkrete Pläne entwickelt. Um so bald wie möglich unsere Arbeit auch mit Publikum teilen zu können, haben wir uns entschlossen eine Preview-Version des Projekts zu erarbeiten. Für jetzt heißt das: Try Out! Ausgestattet mit Smartphone und Kopfhörern kommen wir wieder vor unseren Bildschirmen zusammen und legen los!

März 2021: Wir schrauben ein letztes Mal, ziehen uns für einen Moment zurück, während das Theater seinen Probenbetrieb wieder aufnimmt und bringen das Projekt zu einem Ende. Die Virtuelle Realität der ausgestorbenen Arten soll bald die Bildschirme fremder Smartphones beleben. Wir zählen die Tage bis wir diese Preview nun loslassen können, bis wir im Theater das Paket zusammen haben und es verschicken können. Klar ist, das ist nur der erste Schritt. Irgendwann wird das Theater wieder öffnen und wir werden die Virtual Reality in Verbindung mit dem Aufführungsbesuch der REVUE erlebbar machen. Für jetzt bleibt das Erlebnis zu Hause.

Februar 2022: Beinahe ein Jahr ist vergangen. Es ist viel passiert: Die Theater haben geöffnet, REVUE hat bereits im Oktober 2021 eine Premiere gefeiert. Nun wird es Zeit auch die Bienen fliegen zu lassen.
Wie fühlt es sich an die Perspektive zu wechseln? Wie erlebt die Honigbiene die Welt?
Mit einem Smartphone lässt sich ganz spielerisch eine neue Welt öffnen.
Wir fliegen über das Wildblumenfeld, kriechen in den Bienenstock hinein, weichen den Pestiziden und Schädlingen aus …

Wer das Experiment ganz einfach von zu Hause aus wagen möchte, schreibt eine kurze Mail an dramaturgie@theaterbremen.de und bekommt alles Notwendige dafür nach Hause geschickt.