Einer, der für die Bühne denkt und für das Theater lebt: Luis Olivares Sandoval
Söhne, Liebende, zukünftige Herrscher: Der chilenische Tenor singt samstags Verdi und sonntags Mozart. Das können nicht viele, sagt Musiktheaterdramaturgin Brigitte Heusinger.
Gerade ist er abonniert auf Söhne, auf Söhne, die Väter haben, die Väter suchen. Luis Olivares Sandoval ist die Titelfigur in Verdis Don Carlo und verkörpert Prinz Tamino in Mozarts Zauberflöte. Als Don Carlo kämpft er gegen Vater Philipp, den er für machtbesessen und menschenvernichtend hält und der ihm in der Liebe in die Quere kommt. Denn beide lieben die gleiche Frau, Elisabeth von Valois. Auch als Tamino, Prinz eines Märchenlandes, hat er Probleme mit Vater- und Frauenfiguren. Er sucht im Auftrag der Königin der Nacht deren Tochter Pamina, verliebt sich in sie und findet sie im Reich von Sarastro, der sie dort nicht uneigennützig gefangen hält. Auch hier hat sich der Regent überlebt, ein Wechsel steht an und Tamino muss sich Prüfungen unterziehen, um sich für Pamina und Sarastros Nachfolge zu qualifizieren. Söhne, Liebende, zukünftige Herrscher, das sind sie: Don Carlo und Tamino. Und jetzt am Wochenende treffen sie aufeinander, diese gleichgestrickten und doch so unterschiedlichen Charaktere: Am Samstag, dem 16. Dezember singt Luis Olivares Sandoval die allerletzte Vorstellung Don Carlo und am Sonntag steht Die Zauberflöte auf dem Programm.
So ähnlich die Konflikte in beiden Opern auch sein mögen, stilistisch unterschiedlicher könnten sie nicht sein – kaum ein Sänger tut es sich an, Verdi und Mozart so dicht hintereinander zu singen und dann noch in dieser Reihenfolge.
Mozart ist Balsam für die Stimme, fokussiert sie. Danach lässt sich schon mal (kontrolliert und natürlich auch mit leisen Tönen!) ein Verdi schmettern, auch wenn die Stimme völlig anders eingestellt werden muss. Aber in umgekehrter Anordnung? Das ist schwierig – für viele Sänger unmöglich, doch Luis Olivares Sandoval ist ein Theatermensch, einer der für die Bühne denkt und für das Theater lebt. Kaum eine Vorstellung, die er aus Krankheit versäumte, immer da, immer zuverlässig, immer bereit im Sinne des Theaters zu denken und zu handeln. Luis steht seit über einem Jahrzehnt auf der Bremer Bühne, kennt sein Publikum, das ihn wiederum kennt und ihm durchaus auch mal an der Bushaltestelle erzählt, wo es ihn wann und wie gesehen hat. Und wie es ihm gerade gefällt, die Inszenierungen, Luis? Rollen und das Theater überhaupt. Momentan, so empfindet es Luis Olivares Sandoval, herrscht ein Hunger nach Kultur, nach Live-Erlebnissen – die lange Coronazeit steckt allen noch in den Knochen. Und auch wenn noch nicht alle wieder zurück sind, das Publikum, das da ist, geizt nicht mit Applaus, es feiert die Aufführungen, es feiert die Darsteller:innen mit Standing Ovations wie regelmäßig im Don Carlo.
Und wie sieht er es jetzt, das Singen von „Zauberflöte“ und „Don Carlo“ im Wechsel?
„Bei Mozart“, so sagt er, „musst du deine Stimme benutzen wie ein Instrument aus dem Orchester, wie eine Oboe, eine Flöte.“ Er hatte Glück, dass er während seiner Ausbildung in seinem Heimatland Chile ganz früh eine deutsche Lehrerin hatte, die ihn mit dem Stil und der Sprache vertraut gemacht hat. Und so war der Tamino – nach seinem Debüt mit Rodolfo in Bohème – eine der ersten Partien, die er auf der Bühne gesungen hat. Don Carlo hingegen ist ein Bremer Debüt. Und dass das später kommt, ist nicht zufällig. „Für Don Carlo brauchst du als Charakter, aber auch für deine Stimme eine gewisse Reife. Die Figur trägt das Gewicht der Geschichte.“ Er fühle sich manchmal wie der Sisyphos, der in der Bremer Inszenierung einen Bücherball immer wieder über viele Stufen nach oben schiebt, der dann aber doch immer wieder in die Tiefe rollt.
„Du brauchst viel, viel Zeit und ganz viele Übungsstunden. Die Partie ist dramatisch, muss aber trotzdem romantisch, lyrisch gesungen werden und die Phrasierung muss schön und dunkel sein.“
Verdi denkt sehr theatralisch, manchmal ist man freier in der Gestaltung als bei Mozart, gerade in der Entscheidung „wieviel musikalische Energie man in die Phrasen legen kann“. Aber mit dieser Energie müsse man vorsichtig umgehen, die musikalische Linie muss gehalten werden und sehr durchdringendes Singen, das man auch als Schreien bezeichnen könne, möge man in Deutschland nicht. Das sei in seinem Heimatland und dem Heimatland der Oper, Italien, anders. Aber er könne dieses Bedürfnis verstehen, denn leiseres Singen befördere die Musikalität. Doch egal, was, wie und wann er was singen würde, das Allerwichtigste für ihn gerade sei, gesund zu bleiben. „Wenn du dich am Tag vor einer Vorstellung hundertprozentig gut fühlst, dann kannst du ruhig schlafen.“ Aber mit der Gesundheit sei es eben nicht so leicht in Deutschland.
Einfach zu kalt.
Am Schluss des Gesprächs denkt Luis Olivares Sandoval dann noch über einen weiteren jüngeren Mann nach, auf dessen Bühnenleben er sich gerade vorbereitet: German in Pique Dame, Premiere im kommenden Mai. „Wenn ich als Tamino auf die Bühne gehe, ist er jedes Mal wie ein weißes Buch mit ganz leeren Seiten, die sich im Laufe des Abends zaghaft füllen. Germans Buch hingegen ist schon vollgeschrieben, bevor er auf die Bühne geht. Er ist ein äußerst interessanter, aber gefährdeter Charakter: ein Spieler, ein Besessener, ein Mensch am Rande seiner eigenen Existenz.“ Dieses Mal kein Herrscher, sondern ein Verlierer – es bleibt spannend mit den Söhnen, den Suchenden und mit Luis Olivares Sandoval.
Veröffentlicht am 14. Dezember 2022