„Mehr noch – er ist Mensch“

Zum Tod von Michael Börgerding. Ingo Gerlach, Chefdramaturg und stellvertretender Intendant der Staatsoper Stuttgart.

„Im kulturellen Kontext bedeutet Macht in erster Linie, anderen die Dinge zu ermöglichen“ (Harald Szeemann) – Theater, heißt es oft, seien eigentlich kleine Königreiche, in denen kleine König:innen nach Belieben schalten und walten können. Das mag manchmal zutreffen – in Bremen habe ich anderes erlebt und anderes gelernt. Dass Michael neben Germanistik auch Soziologie und Philosophie studiert hatte, wollte und konnte er nicht verbergen. Und dass er ein leuchtendes Beispiel „postheroischen Managements“ war, wie er es mit Dirk Baecker formulierte, gab uns die Chance, in flachen Hierarchien zu arbeiten, in einem Umfeld, das geprägt war von Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit und Kontinuität. Gespräche wurden auf Augenhöhe geführt und wir konnten in angstfreien Räumen und Zusammenhängen Theater machen, was keine Selbstverständlichkeit ist, weil Theatermachen immer auch Ausprobieren und das Verlassen des Abgesicherten bedeutet.

Denke ich an Michael, denke ich an eine ruhige Besonnenheit, an eine ganz bestimmte Art, beim nachdenkenden Sprechen die Finger zu bewegen, an eine grundlegende Zuversicht, an unverbrüchliche Loyalität auch bei Meinungsverschiedenheiten, an eine bewundernswerte Großzügigkeit, an Vertrauen – auch im Vorschuss, an das Ausweiten des Möglichkeitsraumes, daran, dass es manchmal schwer fällt, Entscheidungen zu treffen, vor allem, wenn es Entscheidungen gegen etwas sind, an eine unaufhörliche Neugier, an die Fähigkeit, die eigene Verletzlichkeit nicht zu verbergen, an ein echtes Interesse am Gegenüber, an Klugheit, die nicht auftrumpft, die etwas zeigen konnte, ohne zu belehren.

Michael nahm Anteil, nicht nur am Beruflichen, war nahbar und immer ansprechbar, auch über die Zusammenarbeit hinaus. Michael war für viele von uns wie ein Vater, was es nicht immer ganz leicht gemacht hat. Michael war kein Opernfan und es ist sicher nicht falsch zu sagen, dass er mit dieser merkwürdig wunderbaren Kunstform, die uns, also ihn und mich, zusammengebracht hat, immer etwas fremdelte. Aber ein schräger Blick auf das vermeintlich Selbstverständliche ist im Theater meistens durchaus produktiv. Und Michael war nie kalt, war nie zynisch. Michael war ein Vorbild. Nein – er ist es.

Läuft man in Bremen vom Osterdeich durch die Mozartstraße in Richtung Goetheplatz, begegnet man einem Zitat aus der Zauberflöte, das dort auf einen Stromkasten gepinselt ist. „Mehr noch – er ist Mensch“, steht da. Und das trifft. Und vielleicht ist darum der Verlust besonders schwer.

 

 

Veröffentlicht am 23. Januar 2025