„Mein Heimweh ist wie ein guter Freund, der immer dabei ist.“

Über Familie, Muskelkater, Durchhalten und Träumen: Tenor Ian Spinetti im Gespräch mit Dramaturgin Brigitte Heusinger.

Ian Spinetti hat Schmerzen, am ganzen Körper. „Es macht so viel Spaß, aber es ist Sport.“
Sein Sport sind gerade die Proben von Prokofjews Die Liebe zu den drei Orangen. Ian Spinetti verkörpert in diesem surrealistischen Märchen eine Hauptpartie, einen depressiven Prinzen, der nur durch Humor geheilt werden kann. Leider lacht der Prinz über ein Missgeschick der falschen Person, nämlich über eines der Zauberin Fata Morgana, die ihn sofort mit einem Fluch belegt. Ab jetzt ist der Prinz völlig vernarrt in drei Orangen. Die Partie ist ein Debüt für Ian Spinetti: „Die erste Begegnung mit dieser Oper kann kompliziert sein, auch wenn die Musik lustig und energiegeladen ist. Mit vierzehn Gesangspartien ist es ein Riesenensemblestück, bei dem extrem viel auf der Bühne zu tun ist. Wahnsinnig viele Informationen, die man verarbeiten und rüberbringen muss“. Vor knapp zwei Jahren ist Ian Spinetti nach Bremen gezogen, in eine Wohnung, die er nur aus dem Internet kannte, dann umgezogen und das würde er jetzt auch gerne wieder tun: „Ich habe mich noch nicht wirklich zuhause gefühlt“, sagt er und schiebt aber sofort nach, dass er Bremen mögen würde. Das könne man heute leicht sagen, an einem Tag, an dem es warm ist: „Ich finde, Bremen ist auf jeden Fall eine Stadt, in der man die Sonne viel mehr genießen kann als an anderen Orten“, so der gebürtige Brasilianer. Am Theater hatte er einen sehr guten Start ins Ensemble mit dem Musical Hello, Dolly!:

„Meine erste Musicalerfahrung und bestimmt nicht meine letzte!“  

„Wo willst du hin?“, frage ich ihn. Ich erwarte Partien und große Opernhäuser. Doch es kommen Ziele privater Natur: „Ich möchte ganz viele Menschen, die ich liebe, in meiner Nähe haben“. Das klingt nach Heimweh. „Mein Heimweh ist wie ein guter Freund, der immer dabei ist.“ Ein Bein wird er immer in Brasilien haben bei seiner Riesenfamilie. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß die ist. Wahnsinnig viele Menschen, die jedes Wochenende miteinander Party machen. Hier lebe ich allein. In Bremen bin ich Solist, auf der Bühne und im Leben.“ Aber natürlich möchte er auch als Sänger was erreichen: Puccini singen zum Beispiel. Und dieser Traum wird in der nächsten Spielzeit in Erfüllung gehen, mit einer durchaus prominenten Partie, dem Rodolfo in La Bohème. „Und irgendwann möchte ich auch mal Wagner singen! Aber erstmal die italienische Farbe, dann erst das schwere deutsche Fach!“ Ian Spinetti klingt resigniert, wenn er über die Theaterlandschaft in seinem Heimatland spricht: „Das Opernhaus in Brasilia ist seit Jahren geschlossen, weil notwendige Renovierungen versäumt wurden. Und auch sonst werden Opern eher amateurhaft aufgeführt, mit zu kleinen Orchesterbesetzungen und Räumen, die akustisch nicht geeignet sind“. Wie kommt man in diesem Klima dazu, Opernsänger werden zu wollen? 

Pavarottis Popalbum Buongiorno a te war der Türöffner. 

Ian Spinetti war fasziniert von der Stimme des italienischen Tenors. „Ich habe im Internet gesucht, wo man das lernen kann und eine kostenlose, von der Regierung bezahlte Musikschule in Brasilia gefunden. In Deutschland habe ich so viele Kollegen, die im Kinderchor oder Knabenchor mit dem Singen angefangen haben. Ich habe mit achtzehn Jahren meinen ersten Musikunterricht gehabt und war sofort total verliebt in den klassischen Gesang. Gesang hat etwas von Sport, ist Training. Dieses ewige Lernen, das Bemühen, sich ständig zu verbessern, ist ein strukturierendes Moment meines Lebens.“ Nach drei Semestern an der Musikschule – ein Jahr als Bariton, die restlichen im Stimmfach Tenor – bekam er einen Studienplatz an der Uni in Brasilia für Lehramt Musik. Und dann begann eine Phase, die von starkem Willen, Zufall und der Unterstützung Dritter geprägt war. Gleich zu Beginn des Studiums bewarb er sich bei einer Chorakademie in Trancoso, einem Traumort an der Küste Brasiliens, die von dem deutschen Dirigenten Rolf Beck geleitet wurde. Die Meisterkurse betreute seine Frau, die Mezzosopranistin Lucia Duchoňová. Spinetti war einer der sechzig Sänger:innen, die von ihnen ausgewählt wurden. Fünf von diesen sechzig wurden nach Deutschland eingeladen, um dort mit der Lübecker Chorakademie zu singen. Er war einer davon. Es kam ein Kontakt mit einem Tenor aus Augsburg zustande, der ihm im Juli 2016 ein Chorengagement mit den Bamberger Sinfonikern vermittelte. Er hatte gar keine finanziellen Mittel, um erneut nach Deutschland zu fliegen, der Flug wurde übernommen. Und ein neues Chor-Engagement bei den Weimarer Bachwochen stand in Aussicht. 

„Zurück in Brasilien habe ich meiner Mutter angekündigt, dass ich im nächsten Monat nach Deutschland ziehen und nichts von ihr brauchen würde, kein Geld, gar nichts.“ 

Durch Konzerte in Brasilien und Fundraising im Internet kratzte er 2000 Euro zusammen, die er in bar bei sich hatte. „Mit diesen 2000 Euro und durch das kostenlose Wohnen bei meiner Augsburger Gastfamilie habe ich sechs Monate überlebt, bis ich durch Arbeit in einem Supermarkt und als Bierverkäufer im Stadion für meinen Lebensunterhalt sorgen konnte.“ Da er in Augsburg nur deutsche Freunde hatte, fiel ihm das Lernen der Sprache leicht. „Wie Gesang habe ich die Aussprache geübt, Wörter wieder und wieder wiederholt, auf der Straße, in der Uni, im Bus. Die Menschen haben mich wohl für verrückt gehalten, aber es hat was gebracht.“ Vom Augsburger Leopold-Mozart-Zentrum ging es an die Folkwang Universität der Künste in Essen und mit kleineren Rollen an die Oper Burg Gars, ans Theater Kiel und ans Aalto Musiktheater Essen. Ja, und jetzt ist Ian Spinetti seit zwei Spielzeiten im Festengagement am Theater Bremen, spielt sich zunehmend frei und in die Herzen der Zuschauer:innen. Gerade noch als Pluto in Orpheus in der Unterwelt, jetzt als Prinz in den Drei Orangen – und in der neuen Saison in der Musicaluraufführung Der 35. Mai, Puccinis La Bohème und vielem mehr.

 

 

Veröffentlicht am 13. Mai 2024