Yoel Gamzou: Mein John Lennon
Der Musikalische Leiter Yoel Gamzou spricht über John Lennon, mit dem ihm seit seiner Kindheit vieles verbindet …
Als er sechs Jahre alt war, hat ihm seine Mutter eine Kassette mit Beatles-Songs geschenkt. Seitdem ist er Fan und ganz besonders von John Lennon, der ihm zu einem Vorbild wurde. Dramaturgin Brigitte Heusinger hat diese besondere Liebeserklärung aufgezeichnet.
Es ist absolut eindeutig: In den Zeiten, in denen John Lennon am unglücklichsten war, hat er die beste Musik geschrieben. Ich halte nicht so viel von der These, dass Künstler leiden müssen, um gut zu sein – das ist eine romantisierende Vorstellung – aber bei Lennon war es einfach so. John Lennon war ein Mensch mit einer unglaublich komplizierten Kindheitsgeschichte, ein Mensch mit einer zerrissenen Seele. Sein Vater war nach seiner Geburt fast immer auf See und hat, als John zwei Jahre alt war, die Familie endgültig verlassen. John hat bei seiner Tante gelebt, vor deren Haus seine Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
Als Paul McCartney und John Lennon sich kennenlernten, waren sie 15 und 17 Jahre alt.
Und nach ein paar Jahren, sie waren immer noch um die 20, konnten sie nicht mehr auf die Straße gehen, ohne von rumkreischenden Mädchen verfolgt zu werden. Heute kann man die Beatles wie Beethoven betrachten, sie sind inzwischen „Klassik“ (gerade für mich, da ich den Unterschied zwischen E- und U-Musik ablehne), aber damals waren sie einfach ein Haufen junger Leute, die Rock-and-Roll spielen wollten. Sie hatten nicht vor, die Welt zu verändern. Sie wollten Songs schreiben, was sie auch getan haben, sehr einfache, aber sehr gute Songs. Dann kam der Erfolg und ein Plattenvertrag. Ab dann gerieten sie in die Mühle und mussten liefern, liefern, liefern.
Damals gab es noch keine Psychologen, Berater, Coaches. Sie waren völlig überfordert von dem Druck.
Da sie im Vergleich zu anderen Bands relativ wenig Drogen genommen haben, zumindest in dieser frühen Phase, entfiel dieses Ventil. Sie haben also beschlossen, nicht mehr zu touren, sondern nur noch im Studio Aufnahmen zu machen. Und dann kam mit Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band 1967 ein Album, das die Musikwelt völlig veränderte. Paul war 25, John 27 Jahre alt. Nach diesem Ausbruch nahezu Mozart‘scher Genialität gab es plötzlich einen ganz anderen Anspruch.
Für ihre Pubertät, für das Ablösen von ihren Eltern, den Elternfiguren, hatten sie keine Zeit. Stattdessen hatten sie Konzerte vor 40.000 Menschen gegeben. Sie wurden erwachsen, emanzipierten sich, als sie sich voneinander, von den Beatles, emanzipierten.
1966 lernte Lennon Yoko Ono kennen.1968 sind sie zusammengekommen. Ab diesem Zeitpunkt beginnt der zweite Teil von Lennons Lebens. John nannte Yoko „Mother“. Er hat sie zu seiner Mutter, sie ihn zum Kind gemacht. Man sieht diese regressive Symbiose der beiden auch auf den Fotos. Als Kind wurde er verlassen, und jetzt fand er in Yoko eine Mutter. Er konnte die Verantwortung abgeben – die krasseste Infantilisierung in der Musikgeschichte. Und er hat nicht nur mitgemacht, er wollte es.
Trotzdem war die Beziehung extrem glücklich.
Einer seiner Freunde hat einmal gesagt, dass Johns Seele zum ersten Mal in seinem Leben Ruhe gefunden hätte. Aber genau in dem Moment, in dem seine Seele Ruhe gefunden hatte, war er künstlerisch nicht mehr gut. Natürlich muss man sich fragen, was wichtiger ist: eine, von außen betrachtet, schwierige Beziehung oder das subjektive Wohlbefinden in einer solchen Beziehung. Und wer will sich schon anmaßen, das zu entscheiden? Obwohl mir Yoko nicht sonderlich sympathisch ist, glaube ich nicht, dass sie der Grund war, weshalb die Beatles auseinandergegangen sind. Das wäre viel zu einfach. Vier Menschen dieser Größe hören doch nicht auf, in der erfolgreichsten Band der Weltgeschichte zu spielen, wegen einer Frau. Natürlich kann Yoko Ono schon dazu beigetragen haben, aber die Verantwortung müssen die Jungs schon selber tragen. Naja, es war schon grotesk, dass sie sich bei den Aufnahmen zu Abbey Road ein Bett bei Harrods gekauft hat und es mitten ins Aufnahmestudio hat stellen lassen. In dem lag sie nun während der Proben. Das ist absurd, aber noch absurder ist, dass John es zugelassen hat.
John hatte angekündigt, dass er die Band verlassen wolle, aber derjenige, der die Beatles aufgelöst hat, war Paul.
Der Grund war das Managementthema. 1967 hatten sie die Apple-Firma gegründet: ein Label für andere Künstler, die unter anderem Mode machen wollten. Es war der reinste Hippiehaufen. Und 1969 waren sie bankrott. Die welterfolgreichste Band war bankrott. Sie hatten keinen Plan, wie man eine Firma führt. Brian Epstein, der sie erfolgreich gemanagt hatte, war tot. Sie hatten keine Buchhalter, die Sekretärinnen waren die ganze Zeit bekifft, sie hinterzogen Steuern, weil sie gar nicht wussten, was Steuern waren. Am Ende standen sie vor einem Haufen Schulden. Paul bestand auf einen ernstzunehmenden Manager, schlug allerdings seinen Schwiegervater vor. Die anderen wollten Allen Klein, weil er ihnen angeboten hatte, ihnen gegen die Rechte an ihren Songs 100.000 Pfund auf die Hand zu geben. Paul beschwor, dass das zu kurz gedacht sei, was ja total richtig war. Sie haben durch diese Fehlentscheidung irrsinnig viel Geld verloren.
All das kündigte sich an, bevor es Yoko gab.
Aber sie wusste auch, auf welche Knöpfe sie drücken musste. „Was willst du von deinem Leben? Der einfache Rock-and-Roller sein, oder ein intellektueller Kämpfer für den Weltfrieden?“, fragte sie ihn. Sie vermittelte John, dass die Beatles ihm keinen künstlerischen Freiraum gaben, keinen Platz, sich zu entwickeln. 1971 emigrierte John Lennon mit Yoko in die USA. Jetzt, zwischen 1970 und 1975, begann seine große Solozeit, obwohl die Werke viele Jahre unbekannt waren. Klar, das Album Imagine kennt jeder, aber es gab noch viele andere Alben: Walls and Bridges, Plastic Ono Band, Mind Games, Double Fantasy, Some Time in New York City, darunter auch viele schlechte Songs. 1973 trennten sich John und Yoko. In den anderthalb Jahren, in denen er ohne sie war, hat er manche seiner besten Alben geschrieben. Aber er hat auch Drogen genommen, massiv Alkohol getrunken und war totunglücklich. Jeden Tag rief er Yoko aus Los Angeles an: „Bitte, bitte, nimm mich zurück.“ Aber sie wies ihn zurück: „Du bist noch nicht bereit“. Und sie hat ihn durchaus aufgefordert, mit anderen Frauen ins Bett zu gehen: „Du musst erst schätzen lernen, was du verloren hast.“ Nach 18 Monaten durfte er dann zurück. Aber unter Bedingungen. Das war der Moment, in dem er aufgehört hat, Musik zu machen und fünf Jahre lang Hausmann war und sich um seinen Sohn Sean gekümmert hat, den sie direkt nach seiner Rückkehr gezeugt hatten. Es gibt dieses letzte Interview, in dem er sagt, dass er zu dieser Zeit verstanden habe, was für ein Macho er gewesen war und wie schlecht es um die Emanzipation stände. Er sei nur ein einfacher Rock-and-Roller und Yoko eine große Künstlerin. Das ist schon ein bisschen absurd.
Was ich an John Lennon am meisten bewundere, ist seine Wahrhaftigkeit, seine Authentizität.
Ich glaube, er ist die unverstellteste, ehrlichste Künstlerpersönlichkeit, die ich kenne. Er hat nicht versucht, einen Hit zu schreiben. Er hat von sich selbst geschrieben und hat die Menschen erreicht, weil er ehrlich war. Lennon war ein unglaublich zerbrechlicher Mensch und kein Held, den man auf Distanz bewundert oder so eine Pop-Ikone, die man aufbaut. Sondern ein Mensch, eine Persönlichkeit, die andere in seine Abgründe blicken lässt so wie sie sind und der sich selbst nicht schützt, der sich nicht idealisiert. Und er hat sich andauernd widersprochen. Sein Leben ist ein einziger großer Widerspruch.
Aber diese Widersprüchlichkeit ist ein Teil seiner Einzigartigkeit, seines Charmes, seines Charismas.
Wenn ich über das Leben von Lennon rede, ist es für mich immer sehr schmerzvoll, weil ich das Gefühl habe, dass hier ein Mensch über lange Zeit sein wahres Ich, seinen Kern unterdrückt hat und sich an ein System angepasst hat, in dem er Ruhe gefunden hat. Ein Künstler kann nicht ohne Kunst leben, ein Musiker nicht ohne Musik. Fünf Jahre hat Lennon nicht komponiert – zu der Zeit kann er nicht glücklich gewesen sein. Dieses endlose Dilemma zwischen dem Frieden der Seele und dem Bedürfnis, kreativ zu sein, ist ein Thema, das uns alle beschäftigt und eine Botschaft, die viele Menschen erreichen könnte.