Die Dezember-Kolumne – Meine vierzig Jahre mit Madonna
Und unsere Liederabende am Theater mit Sezen Aksu, John Lennon, Patti Smith und Leonard Cohen. Ein Text von Michael Börgerding
Vor knapp 15 Jahren, 2008, erschien im Suhrkamp-Verlag ein Sammelband mit dem schönen Titel Madonna und wir. Bekenntnisse, herausgegeben von Kerstin und Sandra Grether, 25 Jahre nach Madonnas erstem Album und als kleines Geburtstagsgeschenk zu ihrem 50. Geburtstag. Und ungefähr 24 Jahre nachdem mein Freund Lehmann, Michael hieß immer Lehmann und nicht Michael und heißt noch immer so, mit einer Platte von Madonna, mit Like a Virgin die WG-Küche betrat und unser Gelächter und unsere Schmähungen ertragen musste. Aber im Grunde waren wir ähnlich ratlos wie die acht Gangster in Tarantinos Reservoir Dogs, deren Gespräch über Madonna in die Filmgeschichte eingegangen ist:
„MR. BROWN What the f**k was I talking about? MR. ORANGE You said True Blue was about a guy, you said it's a girl who meets a nice guy. But Like a Virgin was a metaphor for big di*ks. MR. BROWN Ok, let me tell ya what Like a Virgin's about. It's all about this cooze who's a regular f**k machine. I'm talking, morning, day, night, afternoon, di*k, di*k, di*k, di*k, di*k, di*k, di*k, di*k, di*k. MR. BLUE How many di*ks is that?”
Schon damals war Madonna ein Fall für Hermeneutiker. Und natürlich Hermeneutikerinnen. Spuren und Zeichen hat Madonna seitdem viele gelegt. Und viele sind ihnen gefolgt. Einige Jahre später, Anfang der Neunziger, habe ich mit meinem Freund Herbert In Bed with Madonna gesehen. Ich war schon am Theater, hatte mein Promotionsvorhaben zur Seite gelegt, Herbert promovierte hingegen über „Plötzlichkeit als ästhetische Kategorie“ und wir beiden hatten als katholische Südoldenburger und passionierte Zeichenleser größten Spaß an diesem überinszenierten Dokumentarfilm. Unvergessen Madonna am Grab ihrer Mutter, ihr versprechend sich zu verbessern, nachdem sie wenige Tage zuvor wegen einer simulierten Masturbation in Toronto verhaftet worden war.
1990 war es auch, als die große amerikanische Kunst- und Kulturhistorikerin Camille Paglia in der New York Times schrieb: „Madonna – am Ende eine Feministin“. Paglia bekannte sich als waschechter Madonna-Fan, Madonna verkörpere die Zukunft des Feminismus, sie habe die babylonische Hure, die heidnische Göttin wiederauferstehen lassen. Oder sachlicher: Madonna hat die Kontrolle über ihr Leben, über ihre Sexualität, über ihren künstlerischen Output und ist wirtschaftlich erfolgreich – „a complex modern woman“.
Und auch das ist wieder dreißig Jahre her. Seitdem begleitet Madonna uns, verfolgen wir ihren Weg und ihre Irrwege, hören ihre Musik oder eben nicht mehr oder eben wieder doch. Ich blättere in diesem Sammelband von 2008, wundere mich, dass schon wieder fünfzehn Jahre vergangen sind, und freue mich über das schöne Kapitel „Madonna als Unterrichtsfach“ und den noch schöneren Titel: „Madonnalogie – Warum nicht mitreden kann, wer nicht über Madonna redet“. Jetzt tourt die sehr, sehr große, überlebensgroße Madonna wieder. FOUR DECADES. THE CELEBRATION TOUR. Und für alle, die keine Karten bekommen konnten, und für alle, denen die Karten zu teuer waren und die trotzdem mitreden wollen: Wir nehmen aus gegebenen Anlass unseren Abend In Bed with Madonna am 7. Dezember wieder auf, Maartje Teussink hat die Musik von Madonna neu arrangiert, Anne Sophie Domenz hat inszeniert, choreografiert, die Bühne und die Kostüme entworfen und Annemaaike Bakker spielt und singt Madonna – immer mit ein bisschen Distanz und, wenn wir ehrlich sind, bisweilen ein bisschen zu gut und zu schön für Madonna. Shirin Eissa singt auch, genau wie Emil Borgeest, Levin Hofmann und Ferdinand Lehmann. Die zudem ganz wunderbar aussehen und tanzen! Don’t miss it!
Ich könnte jetzt sehr ähnliche Geschichten erzählen, über meine, über unsere Geschichten, die wir mit den Künstlerinnen und Künstlern verbinden, über die wir hier in den letzten Jahren musikalische Abende erarbeitet und gezeigt haben. Die Lieder der Madonna der Türkei, Sezen Aksu, spielen wir seit fast zehn Jahren mit Istanbul und noch immer, Because the Night ist nicht nur eine Liebeserklärung von Helene Hegemann (und dem Team) an Patti Smith, auf dessen Fotos und Zeilen ich mich jeden Tag bei Instagram freue, und die Lieder von John Lennon sind in diesen Tagen vielleicht so wichtig wie nie zuvor. Auch deshalb haben wir Imagine von Yoel Gamzou wieder im Großen Haus in das Repertoire genommen. You may say I’m a dreamer…
Begonnen haben wir unsere Verbeugungen und Liebeserklärungen mit Leonhard Cohen. Felix Rothenhäusler und Matthias Krieg haben damals zwei sehr strenge und fast zenbuddhistische Abende im Kleinen Haus mit seinen Songs gemacht: I’m your Man und You want it darker. Jetzt ist ein neues Buch über Cohen erschienen, es heißt Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens. Es erzählt davon, wie Cohen 1973 aufbrach, um Israel in diesem Krieg beizustehen mit seiner Gitarre und seinem Gesang. In der Süddeutschen lese ich: „Man muss sich beim Lesen ab und an daran erinnern, dass die Handlung im Jahr 1973 spielt und nicht im Oktober 2023. Wie heute war Israel völlig unvorbereitet getroffen worden von seinen Feinden. Wie heute brach in diesen dunklen Stunden die Diaspora nach Israel auf, um sich dem Militär anzuschließen.“ – „Who in mortal chains, who in power / And who shall I say is calling?“
Carsten Brosda, Hamburger Kultursenator, ist auch ein Cohen-Fan. In seiner Rede im Rahmen der Veranstaltung Schweigen durchbrechen – Wir in Hamburg bleiben zusammen im Thalia Theater sagte er jetzt: „Es gibt einen wunderbaren Film über seinen Song Halleluja, zu dem er 1700 Strophen geschrieben hat, bevor er dann endlich eine Fassung gefunden hatte, die dann noch zigmal verändert worden ist. Am Ende sitzt der alte Leonhard Cohen auf einem Stuhl und wird befragt, was ihn eigentlich angetrieben hat, dieses Lied, dieses Gebet, wenn man so will, und am Ende auch diese Ode an die Mitmenschlichkeit zu schreiben, und er sagt den sehr klugen Satz: ‚Sometimes you either raise your fists or you say ‘Hallelujah.’ I try to do both.‘“ Und weiter bzw. am Ende seiner Rede sagte Brosda: „In seinem großen Song Anthem singt er an einer Stelle: ‚There is a crack, a crack in everything. That's how the light gets in.‘ Und ganz ehrlich, in den düsteren Tagen, in denen wir uns momentan bewegen – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich wache manchmal morgens auf, und frage mich, wie soll das nur gehen, wie konnte ich über Zuversicht reden vor einem dreiviertel Jahr. Aber gerade jetzt müssen wir es. Und dieser ‚crack‘, durch den das Licht kommt, sind die Künste. Es sind im erweiterten Sinne alle, die Mitmenschlichkeit ausmachen, die einander in Mitmenschlichkeit begegnen. Lassen Sie uns die Risse, die Menschlichkeit erschaffen kann, erweitern, und lassen Sie uns alle diejenigen, die versuchen, das zu zerstören, hinausdrängen und ihnen keinen Platz in unserer Gesellschaft geben. Das ist die Aufgabe: ‚Raise your fists and sing Halleluja.‘“
Die Katholikin Madonna ist im Übrigen seit 1996 Studentin der jüdischen Kabbala. Mehrmals war Madonna schon in Israel bei Kabbala-Treffen, unterstützte das Kabbala-Zentrum finanziell und warb unter ihrem selbstgewählten Namen „Esther“ neue Mitglieder. Ihre Ray of Light Foundation unterstützt Organisationen, die für Frieden, gleiche Rechte und Erziehung für alle arbeiten. „I don’t accept injustice. And neither should you. I invite you all to join my Revolution of Love! MUCH LOVE, Madonna“