„Menschen schützen, was sie lieben.“
Dr. Julia Strahl ist Biodiversitätsexpertin beim WWF und hat lange als Marine Ökophysiologin geforscht. Anlässlich der Premiere von Wasserwelt. Das Musical und der begleitenden Ausstellung am Theater Bremen sprach sie mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über Sex in der Tiefsee, Artenvielfalt und die Rettung von Korallenriffen.
Stefan Bläske: Anglerfische, die bei der Fortpflanzung miteinander verwachsen, Staatsquallen, wo Dutzende Organismen wie ein einziges Individuum wirken, symbiotisches Leben an schwarzen Rauchern … All das kommt in unserem Musical vor. Beim Blick in die Unterwasserwelt kann man einiges über Vielfalt lernen?
Julia Strahl: Allerdings. Die Unterwasserwelt ist nicht nur wunderschön, sondern auch bunt, vielfältig und immer wieder faszinierend skurril. Dabei hat jede noch so überraschende Ausprägung dieser Vielfalt einen speziellen biologischen Zweck. Indem sich beispielsweise der deutlich kleinere männliche Anglerfisch in das Weibchen festbeißt, wird sichergestellt, dass sich die beiden Partner in der Tiefsee nicht verlieren. Mit der Zeit verschmelzen ihre Gewebe und Blutkreisläufe, wodurch das Männchen quasi ein permanentes Anhängsel des Weibchens wird. Seine Organe, außer den Hoden, degenerieren. Das Weibchen kann dann die Spermien des Männchens nach Bedarf verwenden, um ihre Eier zu befruchten – eine außergewöhnliche, aber sehr erfolgreiche Fortpflanzungsstrategie (lacht).
Man muss sich das ja nicht zum Vorbild nehmen, um es erhaltenswert zu finden …
Bemerkenswert ist, dass jedes noch so kleine, große oder skurrile Lebewesen wie ein kleines Rädchen in einem perfekt aufeinander abgestimmten Uhrwerk zu betrachten ist. Stellt man sich nun vor, dass jedes Uhrwerk für einen eigenen Lebensraum steht, versteht man, wie wichtig es ist, die Artenvielfalt zu erhalten. Entfernt man ein oder mehrere kleine Rädchen aus dem Gesamtgefüge, gerät das Uhrwerk – oder der Lebensraum – aus dem Gleichgewicht und droht seine Funktion zu verlieren.
Was kann man gegen das Artensterben auch in den Ozeanen tun?
Am wichtigsten ist, die Belastungen auf die Artenvielfalt und natürlichen Lebensräume zu reduzieren. Die sogenannten Treiber des Biodiversitätsverlusts sind z.B. der Klimawandel, die Übernutzung von Rohstoffen oder die Verschmutzung von Erde, Luft und Wasser. All diese Prozesse kurbeln das Artensterben an und wenn diese Belastungen reduziert werden, können sich Arten und wichtige Lebensräume unserer Erde erholen. Gleichzeitig können uns wissenschaftliche Ansätze wie „assistierte Evolution“ dabei helfen, besonders gefährdete Organismen wie beispielsweise Korallen zu erhalten.
Assistierte Evolution?
Bereits heute sind Korallenriffe in den meisten Regionen der Erde durch Belastungen wie Erwärmung und Verschmutzung der Meere stark beeinträchtigt und bedroht. Derzeit gibt es zahlreiche wissenschaftliche Projekte, die darauf abzielen, widerstandsfähigere Korallenarten zu „züchten“, um Korallenriffe für zukünftige Generationen zu bewahren. Obwohl diese Ansätze vielversprechend sind, befinden sie sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium und dürfen nicht als alleinige Lösung betrachtet werden. Es ist entscheidend, dass wir die Ursachen der Probleme angehen und unser Lebens-, Konsum- und Wirtschaftssystem grundlegend überdenken. Wir müssen Wege finden, wieder mehr im Einklang mit der Natur zu leben, statt sie nur auszubeuten und zu zerstören.
Du hast am Alfred-Wegner-Institut in Bremerhaven und am Helmholtz-Institut für funktionelle Biodiversität in Oldenburg (HIFMB) geforscht. Was macht man eigentlich als „Marine Ökophysiologin“?
Man erforscht in erster Linie zellbasierte Reaktionen mariner Organismen auf Umweltstressoren wie beispielsweise Ozeanerwärmung, -versauerung oder -verschmutzung. Die Ergebnisse können Aufschluss darüber geben, ob sich diese Organismen an zu erwartende Umweltbedingungen anpassen können oder eben nicht und wie sich dadurch Lebensgemeinschaften und Lebensräumen des Meeres zukünftig verändern können.
Du hast aber auch zur Nachhaltigkeitstransformation von Unternehmen publiziert.
Das ist für eine Meeresbiologin eher untypisch, aber anscheinend nicht unmöglich (lacht). Seit zwei Jahren arbeite ich als Biodiversitätsexpertin beim WWF mit dem Ziel, Unternehmen hin zu einem naturfreundlichen Wirtschaften zu unterstützen. Zunächst müssen Unternehmen erkennen, wie stark sie von der Natur und den sogenannten Ökosystemleistungen – wie der Bereitstellung von Rohstoffen, sauberem Wasser oder Bestäubung – abhängen und welche negativen Auswirkungen ihre Geschäftstätigkeiten auf die Artenvielfalt und die Natur haben können. Im Idealfall entwickeln wir gemeinsam einen strategischen Plan sowie konkrete Maßnahmen, um diese Auswirkungen zu minimieren und somit aktiv zum Schutz und Erhalt der Natur beizutragen.
Für unsere Inszenierung „Wasserwelt“ kooperieren wir mit dem Bremer MARUM und zeigen im Theaterfoyer deren Exponate und Bilder. Aber auch ihr habt eine Wanderausstellung zum Thema „bunte Vielfalt der Ozeane“ erstellt, die man kostenlos ausleihen und zeigen kann?
Zusammen mit meinen Kolleginnen Anna Roik und Stephanie Helber habe ich letztes Jahr im Namen des HIFMB und des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) eine Wanderausstellung ins Leben gerufen. Wir möchten Menschen in die Schönheit unserer heimischen Nordsee und die schillernde Welt der Korallenriffe eintauchen lassen und sie für deren Schutz begeistern. Viele dieser faszinierenden Lebensräume des Ozeans sind akut bedroht oder bereits verloren. Zusammen mit mehr als 25 Wissenschaftler:innen und Mitarbeiter:innen für Medien- und Wissenschaftskommunikation haben wir Fotografien und Kunstexponate zusammengestellt, mit welchen wir bei den Besucher:innen die Liebe zu unseren Meeren und ihren Bewohnern wecken wollen — ganz nach dem Motto von Jacques Cousteau: „Menschen schützen, was sie lieben“. Von Mai bis Oktober 2025 werden wir sowohl im Wattenmeer Besucherzentrum in Wilhelmshaven als auch im Schlauen Haus in Bremen zu sehen sein.
Dafür machen wir hier gerne Werbung. Unsere eigene Ausstellung im „noon“ am Theater Bremen ist vorab zu sehen, vom 13. September bis Ende 2024.
Veröffentlicht am 29. August 2024