Michael Börgerding: „Dann müssten wir beim Programm abspecken“
Auch das Theater Bremen reagiert auf die Krisen, die die Welt bewegen. Mit dem neuen Spielplan. Aber auch ansonsten sieht Intendant Börgerding sein Haus gut aufgestellt – eine Unwägbarkeit gibt es aber. Das Interview, das am 7. September im Weser-Kurier erschienen ist, dürfen wir mit freundlicher Erlaubnis noch einmal abdrucken.
Iris Hetscher: Herr Börgerding, Corona ist noch nicht vorbei, die Preise für Energie explodieren, es herrscht Krieg in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund starten Sie in die neue Spielzeit. Was bereitet Ihnen als Intendant am meisten Sorgen?
Michael Börgerding: Eigentlich alle drei Punkte. Was das Energie-Thema angeht: Da tun wir, was getan werden muss. Wir senken die Raumtemperatur, tauschen Lampen aus; wir haben dafür eigens eine Arbeitsgruppe gegründet. Bei Corona ist ja eher eine Normalisierung eingetreten.
Ist das so?
Das ist mein Eindruck. Wenn die Leute sich anstecken, bleiben sie zu Hause und kommen zurück, wenn sie wieder gesund sind. Bei uns im Theater sind nahezu alle geimpft, die Ensemblemitglieder, die auf der Bühne stehen, testen sich täglich. Wir hoffen, dass wir besser durchkommen, als das im Frühjahr der Fall war. Da mussten wir wegen Krankheitsfällen mehr als 100 Vorstellungen absagen.
Die eine Sache ist es, im Ensemble Corona-Infektionen zu vermeiden. Die andere, dass Besucher immer noch verunsichert sein könnten, oder?
Wenn es Corona-Hotspots gibt, dann sind das sicher eher Ereignisse wie Werder-Bremen-Heimspiele oder Großkonzerte auf der Bürgerweide.
Trotzdem gibt es die Angst vor einer neuen Welle im Herbst mit entsprechenden Einschränkungen.
Wir hoffen natürlich, dass die Welle nicht kommt oder es nicht so schlimm wird wie befürchtet. Aber wir sind für alles gerüstet. Wir müssen ja alle zusammen lernen, mit diesem Virus zu leben.
Der Einschnitt, den Corona markiert, hat die Langzeit-Diskussion, was Theater eigentlich sein kann und soll, befeuert. Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Statistik des Deutschen Bühnenvereins, nach der 86 Prozent weniger Zuschauer in den Theatern gezählt wurden in der vergangenen Spielzeit. Wie gehen Sie mit solchen Debatten am Haus um?
Wir kämpfen schon seit einigen Jahren verstärkt um das Publikum; mir leuchtet es nicht ein, wo da der qualitative Sprung sein soll, wenn man die Vor- und die Nach-Corona-Zeit betrachtet. Es gibt schon lange kein abgesichertes Abo-System mehr, auf das sich ein Haus verlassen kann. Man muss mit jeder einzelnen Produktion für und um das Publikum kämpfen. Die Frage, wie unterhaltsam man sein sollte oder wie avantgardistisch man sein darf, bleibt schwierig. Wir versuchen, uns für alle Bremerinnen und Bremer zu öffnen. Gleichzeitig gibt es ein sehr spezifisches Theaterpublikum, das aber nur einen kleinen Teil der Stadtgesellschaft repräsentiert. Zwischen diesen Polen bewegen wir uns. Oder auch: Wir bringen eine „Hello, Dolly!“ auf die Bühne, aber auch „Leben und Schicksal“, nach dem Roman von Wassili Grossman. Wir versuchen dabei, immer besser zu werden.
Wie sieht das aus?
Ich arbeite jetzt seit zehn Jahren hier am Haus, und meine These ist: Wir haben uns alle gut kennengelernt und arbeiten eng zusammen, fordern uns aber wechselseitig weiter heraus. So konnten wir die Handschriften vieler Regisseure weiterentwickeln und stärken. Gleichzeitig haben wir uns regelmäßig mit jungen Talenten verstärkt. Und nicht nur mit jungen Talenten. Im Musiktheater gibt es jetzt eine komplett neue Leitung mit Frank Hilbrich als Hausregisseur und Stefan Klingele als Musikdirektor, das steht für dauernden Aufbruch. Und für unsere Attraktivität bei vielen renommierten Künstlern.
Die Spielzeit ist auch eine, in der Produktionen nachgeholt werden, „Leben und Schicksal“ haben Sie erwähnt – da geht es um den „Großen vaterländischen Krieg“ der Sowjetunion. Ist das derzeit nicht unpassend?
Das war schon vor Corona und natürlich vor dem Angriffskrieg der Russen geplant. Selbstverständlich haben wir das diskutiert, auch mit dem Ensemble. Ist das richtig, das jetzt zu machen? Man muss wissen, Wassili Grossman war Jude, ein Ukrainer, hat aber auf Russisch geschrieben. Ich habe das Buch im Sommer unter dem Eindruck des Krieges noch mal gelesen; es ist und bleibt ein zutiefst anti-stalinistischer Roman. Es geht um die Verteidigung von Stalingrad, aber auch um die sogenannten Säuberungen von 1937, um die Hungersnot in der Ukraine, die Enteignung der Kulaken. Es ist ein Buch, das sich unbedingt zu entdecken lohnt. Das gleiche gilt für „Das achte Leben“ von Nino Haratischwili. Das ist eher über Alize Zandwijk im Spielplan gelandet, weil sie den Roman so großartig findet und unbedingt auf die Bühne bringen will. Zurecht, weil es ein Buch über das 20. Jahrhundert und die Gespenster des 20. Jahrhunderts ist. Und die holen uns ja gerade massiv ein.
Beide Produktionen setzen den Trend fort, Romane auf die Bühne zu bringen. Warum eigentlich?
Viele Regisseure können mittlerweile sehr gut episch erzählen – das gab es früher in dem Maß nicht.
Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass zeitgenössische Dramatik dadurch in den Hintergrund gedrängt wird.
Das gilt sicher für das klassische Autorentheater, bei dem jemand am Schreibtisch ein Theaterstück verfasst als Auftrag. Schaut man auf die Spielpläne, sieht man schon sehr viel Tagesaktuelles, Dokumentarisches oder Performatives. Wir hatten im vergangenen Jahr drei Uraufführungen von Autorenstücken, dieses Jahr haben wir mal keine, jedenfalls keine mit einem Schreibauftrag.
Warum nicht?
Wir mussten einiges nachholen, und da hat es einen kleinen Stau gegeben. Wir wollten nichts weglassen von dem, was schon geprobt war. Aber Akin Sipal oder Fritz Kater werden sicher weiter für uns schreiben. Für die nächste Spielzeit gibt es schon einen Auftrag an eine junge Autorin.
Haben Sie denn alle geschobenen Produktionen unterbringen können?
Wir haben für die Uraufführung von „Wellen“, eine Auftragskomposition, die leider nicht fertig geworden ist, noch keinen Termin gefunden. Wir hoffen, dass wir das Team in der Spielzeit 2024/25 wieder zusammen bekommen. Das Bühnenbild ist fertig und in einem Container verstaut.
Die Krisen, die wir bereits angesprochen haben, könnten langfristig auch zu Mittelkürzungen und Verteilungskämpfen im Kulturbetrieb führen. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat bereits von einer möglichen „Triage“ der Mittel geschrieben, um die sich immer mehr Einrichtungen und Initiativen bewerben. Ist das Theater Bremen dafür gerüstet?
Derzeit arbeiten wir mit den zugesagten Subventionen der Stadt, aber es ist die erste Spielzeit ohne einen Kontrakt. Kontrakt bedeutet, eine verabredete und verlässliche Finanzierung über fünf Jahre. Das hatten wir zehn Jahre lang; wir wussten, wie viel Geld wir bekommen und konnten damit planen. Und sind damit sehr sorgfältig umgegangen, haben ja sogar die Altschulden, die wir vor zehn Jahren übernehmen mussten, abgebaut. Wir haben in einem Papier das aufgelistet, was wir in Zukunft bräuchten, um den Status quo zu halten. Wir machen uns da keine Illusionen über wünschenswerte und sinnvolle Dinge wie eine Studiobühne oder eine Erweiterung des Kinder- und Jugendtheaters.
Und wenn Sie einsparen müssten, weil beispielsweise freie Kulturprojekte in eine langfristige Förderung überführt werden?
Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Das würde mein Vertrauen in die Bremer Kulturpolitik schon sehr erschüttern. Aber natürlich: Dann müssten wir beim Programm abspecken, völlig klar. Schaut man sich die Städte um die 500.000 Einwohner an, hat Bremen, was die Theaterzuschüsse angeht, sowieso schon die Rote Laterne.
Eine Zeit lang gab es, gerade im Jugendbereich, aufwendige Stadtteilprojekte, in Bremen-Nord oder in Gröpelingen. Da wurde der Stadtraum bewusst einbezogen. Das haben Sie im vergangenen Jahr und dieses Jahr mit Open Air-Aktionen auf dem Goetheplatz wiederbelebt. Soll das verstetigt werden?
Ja, das machen wir im nächsten Sommer wieder und vielleicht auch größer. Der Goetheplatz eignet sich sehr gut dafür. Wir möchten vorantreiben, dass die Umfahrung vor dem Theatro gesperrt wird, dann ist der Raum noch mal ganz anders erlebbar. Mich ärgert, dass das Ordnungsamt über den Platz verfügt, und wir nie gefragt werden, ob und was da passiert. Es müsste unser Platz werden, über den wir verfügen. Dann könnte man ihn auch ganz anders als Theaterplatz gestalten.
Zum Schluss eine fiese, aber klassische Frage. Wenn Sie sich nur zwei Produktionen in dieser Saison anschauen könnten, welche wären das?
Das dürfen Sie einen Intendanten nicht fragen.
Doch.
Also, im Schauspiel „Leben und Schicksal“, schon weil Armin Petras und ich seit vier oder fünf Jahren darüber sprechen. In der Oper „Angels in America“ von Peter Eötvös. Ein leider immer noch sehr aktueller Stoff, wenn man sich anschaut, wie die Fundamentalisten gerade die amerikanische Gesellschaft verändern. Und einfach aufregende Musik! Das ist ein weiteres Herzensprojekt für mich.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.