Michel Friedman: „Die Angst ist mein ständiger Begleiter“

Am 13. März ist Michel Friedman zu Gast im Theater am Goetheplatz mit einer Lesung von seinem Buch „Fremd“. Hier finden Sie eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlags in der Piper Verlag GmbH.

Prolog

Dies ist ein Buch über das Fremdsein.
Das Fremde ­– das äußere und das innere.
Wer wie ich bis zum achtzehnten Lebensjahr
mit einem Staatenlosen-Pass lebte,
wer wie ich Eltern hatte, die aus Polen stammten und die Shoah überlebt haben,
in Paris aufgewachsen ist und als jüdisches Kind nach Deutschland kam, lebt im Nirgendwo.
Ist heimatlos.
Eine Erfahrung, die exemplarisch für viele Menschenschicksale sein konnte.
So ist dieses Buch allen Menschen gewidmet, die irgendwo im Nirgendwo leben.

 

Kapitel 1

Ich bin auf einem Friedhof geboren.

Schmerz.
der keinen Anfang kennt.
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Manchmal versteckt er sich.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.

Ich war ihr Lächeln.
Lächelnde Traurigkeit.
Wie bringe ich euch zum Lächeln?
Wie bringe ich euch zum Lachen?
Wie bringe ich euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.
In der Regel:
gescheitert.
Ein Kind sollte das nicht sollen,
sollte das nicht müssen,
sollte das nicht wollen.
Sollte von seinen Eltern
zum Glück getragen werden.
Ging nicht,
Pech gehabt.
Wie so viele,
deren Elternwelt gerissen,
zerrissen,
gestört,
verstört,
zerstört ist.
Verfolgte,
Geflüchtete,
Arme,
Kranke,
die ihre Kinder vergessen,
die ihre Kinder zum Überleben brauchen,
die vergessen,
dass Kinder noch nicht wissen können,
dass die Traurigkeit eines Lebens
eine Ewigkeit andauern kann.

 

Kapitel 2

Ich weiß,
dass du schon zu lange
auf meinen Besuch wartest.
Kann nicht.
Will nicht,
dass du siehst,
wie ich weine.
Um dich, Papa.
Um Mama.
Um euer Leben im Ghetto.
Als du kein Gesicht mehr hattest,
Papa,
keinen Namen,
nicht mehr wert warst
als deine eigene Erinnerung an dich selber,
an dein Selbst,
das es nicht mehr gab,
schon lange nicht mehr gab.
Vergessen.
Sie schlugen zu.
Wieder und wieder.
Jagten dich.

Wieder und wieder.
Und Mama gleich mit.
Wieder und wieder.
Sie dachten,
ihr kommt nie mehr zurück.
Ihr beide,
Haut und Knochen.
Wolltet nach Hause.
Ihr Narren.
Habt immer noch nichts verstanden?
Nach Hause.
Eure Heimat war euch mit Nummern eingraviert.
Dort gehörtet ihr hin.
Das war euer neues Zuhause.
Wolltet weg,
abhauen.
Ihr Dummköpfe!
Ihr Jesusmörder!
Ihr Judenschweine!
Jidkis. Jidkis. Jidkis.
Weg ...
Ihr armen,
lächerlichen,
bespuckten,
feigen
Judenschweine.
Ihr wolltet weg?

Flüchten.
Wegrennen,
so schnell es geht.
Angst
um das eigene Leben.
Weg.
Nackt.
Das eigene Leben retten.
Wieder einmal.
Wohin?
Wieder einmal
flüchten.
Wieder einmal,
wie seit Jahrtausenden,
flüchten.
Aus Ägypten
flüchten.
So schnell es geht:
raus.
Aber wohin?
Wer wollte euch noch haben?
Ihr, die aus dem Nirgendwo kamt.
Brennmaterial.

Ihr seid
nichts.
Niemand.
Auf der Straße:
Sie grölen.
Der Schleim
ihrer Rotze
bedeckt den Boden.
Pass auf,
dass du nicht ausrutschst.
Du fällst mit deinem Gesicht
auf den nassen Asphalt.
„Typisch Jud!“,
schreien sie.
„Nichts kann er, der Jud!“
„Alles kann er, der Jud!“,
schreien sie.
„Er nimmt uns alles.“
„Er ist nichts.“
„Nicht mal nichts.“
„Bitte nicht treten.
Nicht treten“,
murmelst du.
Du verdeckst dein Gesicht
mit deinen schmutzigen,
blutigen Händen,
das Gesicht,
das den Rotz deiner Peiniger
bereits aufgesogen hat.
Mama schreit.
Sie lachen.

Dann:
Ein Mann stellt seine Aktentasche auf den Boden:
dunkler Anzug,
weißes Hemd,
blaue Krawatte,
Brille mit dicken Augengläsern.
Baut sich vor Mama auf,
richtet sich auf.
Seine Hände sind gepflegt,
manikürte Fingernägel.
Zu spät,
zu leise.
Seine Faust rast in ihr Gesicht.

Du spürst wieder Tritte.
Magen.
Leber.
Lunge.
Weg von hier.
Aber wohin?
Wohin nur?
Wohin?

Veröffentlicht am 4. März 2025.