Mit Kind und Käse. Eine neue Erzählung

Wie man ein Musiktheaterstück ohne „Partitur (oder so)“ auf die Bühne bringt: Dramaturgin Frederike Krüger über Mauricio Kagels Musiktheater für Unerwachsene.

„Absicht dieses Vorhabens ist die szenische Umsetzung mit professionellen Mitteln einer von Kindern frei erfundenen Vorlage“. So schreibt es Kagel 1976 in die Partitur (oder so) seines Zählen + Erzählen. Partitur „(oder so)“ deswegen, weil das Stück genau genommen keine Partitur hat, es gibt keine einzige von Kagel für dieses Stück gesetzte Note, geschweige denn einen Text oder gar Regieanweisungen. Sein „Musiktheater für Unerwachsene“, wie es weiter im Titel heißt, setzt vollkommen auf den Ideenreichtum der Kinder und derjenigen, die die „wahre oder erfundene“ Geschichte, die „so labyrinthisch und bruchstückhaft wie sie auch sein mag“, „in kürzester Zeit in Szene setzen“. „Charakteristisch wird also die Eile sein“, so Kagel weiter, „in der alle technischen und künstlerischen Entscheidungen getroffen werden müssen.“

In seiner rund fünfzigjährigen Komponistenkarriere suchte Kagel immer wieder die Konfrontation mit dem Musik- und Theaterbetrieb und das auf denkbar unterhaltsamste Weise.

Er liebte es, dem Musikbetrieb kleine spitze Seitenhiebe zu verpassen, oft mit eigensinnigen musikalischen Kommentaren. Das „Geschichten erfinden“ war ihm dabei ein besonderes Anliegen, wie beispielsweise bei seinem Stück Finale: Ein Dirigent bricht auf dem Podium tot zusammen, die Musiker:innen springen auf – Ende der Vorstellung. Manch einem mag nun der Atem stocken oder die Augenbraue entgleiten, die Pointe des Ganzen ist jedoch, dass Kagel sich das Stück quasi selbst schenkte und zwar zu seinem 50. Geburtstag 1981 und die Uraufführung auch noch selbst dirigierte.

Am Geburtstag das eigene Ableben zelebrieren – ein echter Kagel eben.

„Ein echter Kagel“ bedeutet auch, den Musikbetrieb selbst immer wieder mit eigensinnigen musikalischen Kommentaren zu hinterfragen. Dabei scheute Kagel nie, sich selbst einer ironischen Betrachtung zu unterziehen. Als kompositorisches Material begriff und emanzipierte er alles. Ja, wirklich „alles“. Den einzelnen Klang, Geräusche wie Husten, Lachen, Pfeifen, Klatschen oder auch laute Schreie, Worte, visuelle und gestische Elemente, Requisiten aller Art, elektronische Klangelemente, die in den 1970er Jahren noch kaum erforscht waren. Dabei erschloss sich Kagel, der in Buenos Aires geboren wurde und 1957 nach Europa übersiedelte, nicht nur musikalische Gattungen und Genres, sondern ganze Aktionsfelder. Hatte Richard Wagner das Musiktheater Ende des 19. Jahrhunderts zur artifiziellen Perfektion im Sinne seines Gesamtkunstwerks geführt, so lässt sich Kagels Avantgardismus nicht nur als Provokation um der Provokation willen lesen (was sie durchaus auch war), sondern als Emanzipation und Rückbesinnung auf das Kreatürliche der Musik selbst. Als „schillernd und vielseitig“ wird das Oeuvre des Deutsch-Argentiniers bezeichnet, gerne auch als „etwas anstrengend“, weil es keine schönen Melodien oder eingängige Rhythmen gibt, die sofort im Ohr bleiben.

Der feine Sinn für Humor, mal mehr, mal weniger subtil …

Was aber bleibt, ist der feine Sinn für Humor, mal mehr, mal weniger subtil, wie etwa in Kagels Phantasie für Orgel und Obligati, wenn eine Toilettenspülung als Teil der Komposition ertönt. Dass er mit solchen Streichen aber nicht nur den etwas exaltierten Musikbetrieb vorführen sollte, zeigt die politische Dimension der Komposition, in der Kagel der Bundesrepublik vor 1968 gleichzeitig den Spiegel einer streng arbeitsteiligen Gesellschaft vorhält. Auch mit seinem Zählen und Erzählen, dem Musiktheater für all jene, „die gerne Geschichten erfinden und hören“, begibt er sich auf unkonventionelle Pfade und sucht die Revolution. Zumindest im Kleinen.

In einer Zeit, in der Kinder kaum vorkommen im Theaterbetrieb und auch selten gemeint sind, erklärt er sie zu den Urheber:innen eines Werks.

Allen weiteren Beteiligten (Regie, Musik, Spiel, Bühne, Technik, Dramaturgie …) lässt er in seiner „Spielanweisung“ freie Hand. Und das geht dann wie folgt, allgemein und in Bremen: An einem Montagvormittag im Januar 2024 treffen sich eine „Erzählgruppe“ (bestehend aus 19 Kindern der 6. Klasse der Oberschule Schaumburger Straße) und eine „Arbeitsgruppe“ (bestehend aus denjenigen, die das Stück umsetzen) und erzählen und lauschen einer Geschichte, die die Kinder reihum erfinden. „Die Arbeitsgruppe beginnt im Anschluss an Phase I (Erzählung und Tonaufnahme der Geschichte) mit der umgehenden Analyse der Erzählung. Da das Projekt primär von der Qualität der Einfälle aller Beteiligten lebt, ist es wichtig, im ersten Meinungsaustausch eine breite Palette an Interpretationen und Möglichkeiten sprießen zu lassen.“ Was dann folgt ist eine Woche voller Spiel, Spaß und Spannung: Regie und Dramaturgie setzen „die wesentlichen Momente der Geschichte“ zusammen, „Bühnen-, Kostüm- und Requisitenfundus des Theaters sollten zur Verfügung stehen und alle Kulissen, Versatz- und Kleidungsstücke oder Objekte, die notwendig sind, um die Handlung sichtbar zu machen, auf einfache Weise anzufertigen.“

Glück gehabt, denn „man kann auch improvisieren“.

Die Instrumentalist:innen haben ebenfalls einen regelrechten „Fundus“ an Kompositionen vorbereitet, neben einer beispielhaften Auswahl an Komponisten (von Haydn und Mozart über Beethoven, Schubert, Ravel und Schostakowitsch), darf „jedes Stück, das die Musiker interessiert und das sie einstudieren möchten, willkommen sein“. „Worte sollten ohnehin auf ein Minimum reduziert werden […], dieser Sachverhalt schafft der Musik eine Chance, weiter über die rein illustrative, atmosphärische Funktion hinaus. Bei einem Musiktheater ohne Gesang, wie es in diesem Vorhaben zustande kommen soll, ist die Möglichkeit, dass die Musik auf der Bühne ihre Autonomie findet.“ Kagel kommt es „auf die Selbstständigkeit von Hören und Sehen“ an. Das Ganze darf übrigens die Spieldauer von 46 Minuten nicht überschreiten. Die Möglichkeit, ihre Autonomie zu finden, schafft Kagel in seinem „Zählen und Erzählen“ sowohl für die Kinder, als auch für die Produktionsbeteiligten selbst, die in dieser „Revolution des Theaterspielens“ eben genau diese autonom wie gemeinschaftlich ausleben können:

Spielen, Improvisieren, Verhandeln, Suchen und Finden, ihrem jeweiligen Beruf wie Berufung folgend.

Dieses Stück, das im reichen Oeuvre Kagels vielleicht nur eine kleine Rolle einnimmt, spiegelt doch in besonderer Weise den Geist des großen Komponisten und noch größeren Theatermenschen wider, der sich bis zuletzt die „jugendliche Neugier“ und Lust am Improvisieren bewahrte: „Solange der Kopf arbeitet“, sagte er in einem Interview 2001, „solange man Ideen und vor allem Lust hat, so lange mach‘ ich weiter. Der Erfindungsgeist kommt mit wachsendem Alter doch nicht zum Stillstand – im Gegenteil: Er wird noch raffinierter.“ Wohin der Erfindungsgeist in Bremen führt, was das alles mit einer (Zeit-)Reise, einem Fantasiewesen, einer Ex-Frau, roten Augen und jeder Menge Käse zu tun hat  – das alles (und vermutlich noch ein bisschen mehr), einen „echten Kagel“ eben, gibt es ab dem 1. Februar im Brauhauskeller zu erleben.

 

 

Veröffentlicht am 29. Januar 2024