Mithu Sanyal: Antichristie

Die Autorin liest aus ihrem neuen Roman im Rahmen von LiteraTour Nord. Das Theater Bremen darf mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags einen Auszug veröffentlichen.

The Queen is Dead

 

1

Es gibt ein indisches Sprichwort: Verstreue Asche nicht gegen den Wind. Durga hatte das immer für eine metaphorische Redewendung gehalten: Kämpfe nicht gegen das, was ohnehin geschieht. Als sie nun den Deckel der Urne aufschraubte und ihr der erste Windstoß die Asche ihrer Mutter ins Gesicht fegte, bemerkte sie, dass es genau das bedeutete, was es besagte: Unterschätze niemals die Macht des Faktischen.

Ihr Vater hustete. Seine Frau unterbrach ihren Redefluss, um ihn zu fragen: »Geht es dir gut, Dineshlein?«, und fuhr, ohne auf eine Antwort zu warten, fort: »Die Lila und ich sind immer gut miteinander ausgekommen. Ich habe immer gesagt, warum sollten wir uns hassen? Habe ich dir erzählt, dass ich immer gut mit deiner Mutter ausgekommen bin, Durga?«

Durga nickte abwehrend. Sie schätzte Rosa für ihre endlose Freundlichkeit, nur konnte sie im Moment nicht noch mehr davon ertragen.

»Just pretend it‹s a sitcom«, flüsterte Jack ihr zu. Doch Durga wollte sich die Beerdigung ihrer Mutter nicht als Comedy vorstellen. Sie wollte sich die Beerdigung ihrer Mutter überhaupt nicht vorstellen. Allerdings wurde ihre Mutter gerade nicht beerdigt, sondern verstreut, wenn auch weniger von der kleinen Gruppe Trauernder, die sich zum Schutz vor dem schneidenden Wind zusammendrängten, als von den Elementen selbst. Lila hätte das gefallen, je dramatischer, desto besser. Special Effects by God. Welchen Gott auch immer sie gerade favorisierte.

Jack legte seinen Arm um Durgas Taille, als wolle er sagen: Ich weiß, dass du keinen starken Mann an deiner Seite brauchst, aber wie wäre es mit einem sexy Mann? »Du machst das großart…«, sagte er und brach ab, als er eine Mundvoll Lila einatmete.

In diesem Moment begann Durgas Jackentasche Death is not the End zu spielen. Sie reichte die Urne weiter, zog ihr Handy heraus und bemerkte, dass sie zu einer Signal-Gruppe hinzugefügt worden war: »Sie ist nicht tot, sondern wird lebendig begraben.« WTF?

Death

»Achte darauf, dass der Sarg nicht zugeschraubt wird.« Sarg?

is not

»Ihr Ehemann hat sie einäschern lassen. Das ist Mord.« Und dann sah sie den Namen der Gruppe: Anti-Christie.

the End.

»Der perfekte Mord!« Das waren keine bedrohlichen Beerdigungs-Stalker, sondern ihre neuen Kollegen aus dem Londoner Writers’ Room, zu dem sie in achtzehn Stunden aufbrechen würde.

»Du weiß, dass du die Nachrichten auch stumm schalten kannst?«, bemerkte ihr Sohn.

»Da wäre ich ja nie drauf gekommen, Rohan«, sagte Durga. Das Knirschen der Asche zwischen ihren Zähnen erinnerte sie an ihre Kindheit, wenn in der Kirche nach der heiligen Kommunion der Leib Christi an ihrem Gaumen klebte.

»Du weißt, dass du auch einfach später nach London reisen kannst?«, bemerkte Jack. Durga ersparte sich eine Antwort. 

»Du weißt, dass man aus einem abgeschlossenen Raum entkommen kann, indem man die Schrauben aus der Türangel entfernt und die Tür an der Angelseite öffnet?«, bemerkte eine Maryam in dem Signal-Chat. »Wenn man zurückkommt, muss man sie nur wieder hineinschrauben, und niemand ahnt, dass man das Zimmer jemals verlassen hat.« Und da wäre Durga nun wirklich nicht drauf gekommen.

Sie regelte die Lautstärke hinunter, aber ließ das Handy an. Natürlich erwartete niemand von ihr, dass sie sich während der Beerdigung ihrer Mutter an Brainstormings beteiligte, geschweige denn, dass sie schon morgen nach London zu dem Agatha-Christie-Writers’-Room reiste. Doch das Nachdenken der anderen Screenwriter über Geheimgänge, Briefe mit unsichtbarer Tinte und aus Eis geschnitzte Messer, die nach dem Einsatz einfach davonschmolzen, gab ihr ein Gefühl von Realität in dieser surrealen Situation.

Das Surrealste war natürlich, dass Lila tot war. Wer verstand schon seine eigene Mutter? Aber Durga hätte Lila auch dann nicht verstanden, wenn Lila nicht ihre Mutter gewesen wäre. Lila und ihre Obsession für den Tod, als sie … nicht tot gewesen war. Zu sterben bedeutete für Lila unendliche ästhetische Möglichkeiten, ein Steampunkfilter für das normale Leben, das selbstverständlich weiterging, und zwar ewig. Totsein bedeutete, unsterblich zu sein. »Wenn ich gestorben bin, werdet ihr die Wahrheit erfahren!«

»Mama, du bist fünfundsiebzig und nicht fünfzehn«, hatte Durga protestiert. Wann? Jedes Mal. Aber das letzte Mal vor zwei Wochen.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Lila. »Was ist Zeit?«

»Jeder weiß, was Zeit ist. Zeit ist das, was du findest, wenn du auf eine Uhr schaust«, zitierte Durga den Physiker Sean Carroll. Irgendeinen Vorteil musste es ja haben, dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. Weswegen sie selbstverständlich davon ausgegangen war, dass es auch nicht das letzte Mal sein würde. Nichts in ihr war darauf vorbereitet gewesen, dass ihre Mutter nicht weiter auf den Tod warten, sondern ihm aktiv entgegenspringen würde wie einem Liebhaber, wenn dieser Liebhaber ein auf sie zurasender Zug wäre.

»Du weißt nicht, wo deine Mutter verstreut werden möchte?«, hatte Jack fassungslos gefragt, als das Undenkbare passiert war und ihre Mutter sich in einem winzigen Moment von einem Atemzug zu keinem Atemzug, von einer Person in eine Leiche verwandelt hatte, ein toter Körper, wo ein lebender Körper sein sollte, ein Fehler im Universum. »Sie hat doch von nichts anderem gesprochen!«

Das war nicht ganz fair. Lila hatte zahlreiche Lieblingsthemen gehabt: UFOs, BlackRock und Vanguard, UFOs, One-World-Government unter Vorherrschaft der europäischen Königshäuser, dass die Freiheitsstatue transgender ist, UFOs, aber ihr eigener Tod hatte nun einmal die größte Faszination auf sie ausgeübt. Er war die Frage, die nur beantwortet werden würde, wenn sie die Antwort nicht mehr weitersagen konnte. (»Oder vielleicht doch?« — Lila.)

»Genau, sie hat pausenlos darüber geredet! Warum weißt du es dann nicht?«, schoss Durga zurück. Wut war besser als Schmerz.

»Hatte sie denn einen Lieblingsort?«, versuchte Jack ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

»Natürlich hatte sie den.« Dummerweise konnte sich Durga nicht daran erinnern. »Gerolstein, Fachingen, eine dieser Städte, die nach einer Mineralwassermarke benannt sind.«

Und so standen sie nun auf einer Wiese bei Sinzig und schütteten Lilas Asche in den Harbach, wo sie dreckige Blasen schlug. Durga schaute hoch und fühlte sich sofort einsam angesichts dieser Natur, mit der sie sich nicht verbinden konnte: Kurhausgrün und feuchter kurzgeschorener Rasen. Wie hatte ihre Mutter nur für immer hier ruhen wollen können? Und dann merkte sie, dass genau das ihr Problem war, die Ruhe, die sich auf alles an diesem Ort legte wie ein ewiger Sonntagnachmittag ihrer Kindheit. Das Einzige, was fehlte, waren Kirchenglocken und der Geruch von Gulasch. Und in dem Moment begannen die Kirchenglocken zu läuten.

Durgas Vater wischte sich die Asche seiner Exfrau aus dem Gesicht. Es schmerzte Durga, dass seine Hand zum ersten Mal heller war als ihre eigene. Sogar die Linie, die seine Handfläche vom pigmentierten Handrücken trennte, war unscharf und verwaschen, ein Zeichen dafür, wie selten er inzwischen die anstrengende Reise in die Welt jenseits seiner Wohnung unternahm. Mit der anderen Hand stützte er sich schwer auf einen Gehstock, bis Rosa einen Siebzigerjahre-Campinghocker aufklappte und Dinesh dankbar auf dessen geblümte Sitzfläche sank.

»Kannst du dich noch an das Sprichwort mit der Asche erinnern?«, fragte Durga.

Ihr Vater schaute sie aus müden Augen an. »Nein. Welche Asche?«

»Die, die gegen den Wind verstreut wird.«

Dinesh nickte. »Wir verstreuen unsere Toten in Indien.«

»Aber die Lila kommt doch gar nicht aus Indien«, sagte Rosa zur Abwechslung einmal genau auf den Punkt. Und nicht zum ersten Mal wunderte sich Durga, warum beide Frauen ihres Vaters Mischungen aus Rot und Blau als Rufnamen gewählt hatten.

Rosa war kurz für Roswita.

Lila war kurz für Sigrun.

Lila brauchte die Realität nicht als Stichwortgeberin. Von ihrer Heirat mit Dinesh Chatterjee an hatte sie sich mit Haut und Haaren in den indischen Unabhängigkeitskampf geworfen, obwohl der bereits bei ihrer Geburt gewonnen gewesen war. Lila war eines jener Mitternachtskinder, die ihren ersten Atemzug machten, als Indien zum Leben und zur Freiheit erwachte. Durgas Vater erzählte gerne, wie ein bengalischer Freund ihn zu Lilas Geburtstagsparty mitgenommen hatte und Dinesh, noch bevor er die Unbekannte, die genauso alt war wie sein Heimatland, das erste Mal sah, wusste, dass sie die Frau seines Lebens sein würde.

Nur war Lila natürlich nicht die Frau seines Lebens gewesen, sondern eine Frau seines Lebens, und der indische Freiheitskampf nur einer der Freiheitskämpfe in ihrem Leben. Das Einzige, bei dem Lila unerschütterlich blieb, war ihre Entscheidung, eingeäschert zu werden. Und wie die meisten ihrer Entscheidungen bereitete auch diese Durga maximale Ungelegenheiten.

»Friedhofszwang?«, hatte sie den Leichenbestatter entgeistert gefragt.

»Ja, schrecklich, nicht wahr?«, antwortete der junge Mann gut gelaunt und rückte das Namensschild an seinem Jackett zurecht. D. R. Dath las Durga und wusste, dass Jack ihn bereits Dr. Death getauft hatte.

»Friedhofzwang?«, wiederholte Jack wie aufs Stichwort. »What’s that supposed to mean? Stay in your grave oder du bekommst einen Strafzettel?«

Der Bestatter strahlte ihn an, als hätte er endlich einen Menschen gefunden, der ihn vollkommen verstand.

»Oh«, sagte Jack, als keine Widerrede kam. »Aber es gibt exceptions, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.«

Nur bezogen sich diese Ausnahmen — Seebestattung, Waldbestattung — ausschließlich auf den Ort, nicht aber auf die Person, die autorisiert war, Lila dorthin zu befördern. Mit dem Moment ihres Todes war Lila Chatterjees Körper in die Hand des Staates übergegangen, und nur offizielle Stellen waren noch befugt, ihn zu berühren. Sogar auf den Aschestreuwiesen ausgesuchter Friedhöfe — »Sie haben Glück, wir sind hier in Nordrhein-Westfalen!« — hätte Durga die Asche ihrer Mutter nicht selbst verstreuen dürfen, stattdessen wäre sie von einem sogenannten Träger mit einer Art überdimensionierter Puderzuckerdose ausgebracht worden. Ausgebracht? Lila? Das Gewicht ihrer Mutter, das sie nicht tragen durfte, lastete so schwer auf ihren Schulterblättern, dass Durga sicher war, sie würde Lilas Silhouette in der spiegelnden Scheibe des Beerdigungsinstituts sehen, wenn sie aufschaute, nur in Schwarz und ohne Licht zurückzuwerfen, als bestünde sie aus Antimaterie, Antilila.

Jack schnaubte und bekam ein Taschentuch gereicht, das er irritiert anstarrte. »Okay, vergiss Bestattung«, sagte er so langsam, als würde er mit einem Kind sprechen. »Was mache ich, wenn ich sie mit nach Hause nehmen will?«

»Ah, da habe ich genau das Richtige für sie«, sagte Dr. Death und öffnete eine Schatulle, in deren Samtinneren ein gänseeigroßer Diamant lag, mit der Gravur Für die Ewigkeit.

»Ist das Capitalism, oder was?«, explodierte Jack. »Why is it okay, wenn ich meine Schwiegermutter zu einem Diamanten pressen lasse? Aber ihre Asche ist tabu? Was ist aus der guten alten Tradition geworden, sie in einer Kaffeedose aufzubewahren, und wenn man zu viel getrunken hat, versehentlich eine Tasse mother-in-law zu trinken?«

»Shut up«, sagte Durga.

Doch der Bestatter liebte britischen Humor. Nur nannte er ihn englischen Humor, was Jack, der zwar Brite, aber nicht Engländer war, definitiv NICHT Engländer, einen Schwall schottischer Schimpfworte entlockte.

Was den Bestatter noch mehr begeisterte. Er rammte Jack feixend den Ellbogen in die Seite. »Wissen Sie, was Sie tun müssen?«

»Nein, das versuchen wir ja die ganze Zeit rauszufinden«, sagte Jack drohend.

»Sie müssen ein Krematorium finden, das relativ liberal ist.«

»Was heißt das?«, fragte Durga, bevor Jack etwas einwerfen konnte, das Dr. Death den nächsten Lachanfall bescherte.

»Einfach ein Krematorium, das keine Bescheinigung über den Verbleib der Asche braucht.«

»Good man!«, sagte Jack.

 

 

Veröffentlicht am 20. Januar 2025