myveryownfeministbookclub #9: Das Gedankenexperiment
Theresa Schlesinger experimentiert im Anschluss an Virginia Woolf.
Wir wagen heute ein Gedankenexperiment. Genauer gesagt zwei. Das erste führt uns auf die Spuren von Virginia Woolf, das zweite wagt den nächsten Schritt. In ihrem Essay Ein eigenes Zimmer geht Woolf der These nach „Frauen können nicht Shakespeares Dramen schreiben.“ Aha. Warum?
Virginia Woolf stellt sich vor: William Shakespeare hatte eine Schwester, Judith.
Sie war genauso talentiert wie er, wenn nicht noch mehr. Aber zur Schule gehen durfte sie nicht. Sie war voller Phantasie, wie ihr Bruder, aber schreiben durfte sie nicht. Sogar das Lesen musste sie vor den strengen Augen ihrer Eltern geheim halten. Als sie schließlich verheiratet werden sollte, packte sie klammheimlich ihre Sachen und haute ab. Nach London. Dort wollte sie Schauspielerin werden! Aber auch das blieb ihr verwehrt, denn „keine Frau sei fähig Schauspielerin zu sein.“ Einer aber erbarmte sich schließlich: der Schauspieldirektor. Doch statt einer Karriere, hielt ihre Zukunft mit ihm nur die Schwangerschaft bereit und also beendete sie an diesem Punkt ihr Leben. Da hatte sie doch eigentlich alles genau so gemacht, wie ihr Bruder und doch wurden der jungen Frau alle Türen vor der Nase zugeschlagen.
Die These, Frauen könnten Shakespeares Dramen nicht schreiben, stimmt also insofern, als dass es ihnen nicht möglich war, ihren Talenten nachzugehen.
Sie konnten nicht schreiben, weil niemand ihre Texte gelesen hätte. Sie konnten sich keinen Namen machen, weil niemand sie ernst nahm. Einzelne von ihnen blitzen immer mal wieder auf in der Geschichtsschreibung und sollen als Gegenbeispiele dienen, aber die Namen dieser Frauen können wir an einer Hand abzählen, während die der Männer seitenweise Bücher füllen. Hat sich seit Shakespeares Zeit etwas verändert? Stellen wir uns also einmal vor, die Männer, die unsere Welt geprägt haben und prägen, wären Frauen oder hätten Schwestern. Wäre unsere Geschichte eine andere? Hätten sie es überhaupt soweit gebracht? Oder wäre es ihnen wie Judith Shakespeare ergangen? (Hier bitte einen Moment innehalten und die Fragen an einem eigenen Beispiel durchdenken, danke!)
Was deutlich wird durch diesen gedanklichen Vorgang, ist doch, dass es die Umstände sind, die sich ändern müssen.
Und hier folgt das zweite Experiment: Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Welt ohne Kategorisierung. Stellen wir uns eine weibliche Geschichtsschreibung vor. Wir erzählen uns von den Heldentaten berühmter Frauen, die historische Momente für sich entschieden haben in dieser Welt. Wir haben weibliche Vorbilder in dieser Welt, die bis zum Anbeginn der Zeit reichen. Es ist keine männliche Historie, sondern eine ohne Geschlecht. Es ist eine Welt, in der wir mit Geschichten aufwachsen, die bewohnt werden von Heldinnen und Helden zugleich. Geschichten, die geschrieben sind von Frauen*. Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch etwas gemeinsam haben: Sie handeln von all den Lebewesen, die in unseren Büchern hier und jetzt immer nur am Rande vorkommen oder sogar überhaupt nicht. Stellen wir uns vor, sie wären die Protagonistinnen und Protagonisten in den Büchern, die wir als Kinder vorgelesen bekommen und mit denen wir später unsere Kinder zum Einschlafen bringen.
In dieser Welt existieren vielleicht Welten zwischen den Seiten, in denen es keine Rolle spielt, welches Geschlecht die Figuren haben.
Stellen wir uns vor, wir könnten uns ohne Vorurteile begegnen und uns wahrnehmen als Menschen. Virginia Woolf gibt am Ende ihres Essays einen Ausblick in die Zukunft, die unsere jetzige Gegenwart ist: „Ich glaube fest, wenn wir ungefähr ein weiteres Jahrhundert leben (…) und jede von uns fünfhundert im Jahr und ein eigenes Zimmer hat; wenn wir die Freiheit gewohnt sind und den Mut haben, genau das zu schreiben, was wir denken; (…) wenn wir dem Faktum ins Auge sehen, daß kein Arm da ist, an dem wir uns festhalten können, sondern daß wir allein gehen und daß wir Beziehung zur Welt der Wirklichkeit haben müssen und nicht nur zur Welt der Männer und Frauen, dann wird die Gelegenheit kommen, und die tote Dichterin, die Shakespeares Schwester war, wird den Leib anlegen, den wir so oft abgeworfen haben.“ Doch wir sind verantwortlich für die Welt, in die sie kommt. Wir müssen dafür sorgen, dass sie sichtbar werden kann.
Das nächste virtuelle Buchclub-Meeting findet am kommenden Freitag, 29.5. um 19:30 Uhr statt. Die Zugangsdaten gibt es über dramaturgie@theaterbremen.de
Ich freue mich von euren Leseeindrücken zu erfahren und bin gespannt, wie euer Experiment ausgeht!