Nach dem Schwarzen Schabbat – Solidarität mit Israel
Eine Presseschau und mehr. Ein Text von Michael Börgerding.
Freitagmorgen, sechs Tage nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. Ich lese Zeitungen. „Es ist ein anhaltender 11. September.“ – Eine Formulierung von Bernard-Henri Lévy heute in der Süddeutschen Zeitung. Sie trifft ein Gefühl, mit dem ich sicher nicht alleine bin. Die Bilder der mordenden, Spaß habenden, sich dabei filmenden Terroristen haben sich eingebrannt wie die Bilder vom 11. September. Wie für das Unfassbare Worte finden und wie sich verhalten jetzt – als Mensch und als Theatermacher? Was heißt Solidarität mit Israel? Und warum tun sich so viele Menschen um mich herum so schwer damit, diesen Zivilisationsbruch nicht zu relativieren mit Verweisen auf die Besatzungspolitik Israels oder auf das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Was ist das: allgemeine Müdigkeit, Erschöpfung, Empathielosigkeit?
Sergey Lagodinsky, geboren 1975 in Russland, kam 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Er sitzt im Europäischen Parlament für die Grünen und ist der einzige Jude unter den deutschen Parlamentariern dort. Lagodinsky schreibt in der FAZ von heute: „Als wir damals gingen, gingen viele, nur einige sind geblieben. Ein Teil der Familie schreibt mir nun aus Israel. Draußen lauert die Hamas. In der Ukraine schauen Freunde gebannt auf Israel, während es Bomben auf sie selbst hagelt. Sie schauen auf das verstümmelte Festival in Re’im und erinnern sich an Butscha. Nicht einmal zwei Jahre ist es her. Despoten und Terroristen zerstören menschliche Körper. Aber menschliche Träume zerstören die anderen – die gleichgültigen Nachbarn, die unauffälligen Schweiger, die unterkühlten Relativierer und die vielen, die sich zu bequem geworden sind, um sich ernsthaft der neuen Realität zu stellen. Schüler, die einen Schlussstrich wollen (50 Prozent), die Jugendlichen, die Vergewaltigungen mit palästinensischen Fahnen auf unseren Straßen feiern, der selbstverliebte Politökonom aus Griechenland, der in Berlin sitzt und sich weigert, Terror zu verurteilen. Israelische Soldaten holen geköpfte jüdische Babys aus geplünderten Häusern. Nicht nur auf der Berliner Sonnenallee feiern Menschen auf unseren Straßen Täter. Der Traum platzt. Er platzt wie die Wunden der Opfer, weil die Angriffe auf das Menschliche unerträglich sind und weil die Empathie des Menschlichen sich in unserer Umgebung so schnell erschöpft. Was bleibt, ist bestenfalls Achselzucken, schlimmstenfalls – Verständnis für die Vergewaltiger. Der Frust über das Leben ohne Zukunft sei einfach zu groß gewesen in Gaza. Oder der Frust über die Ausdehnung der NATO im Kreml.“
Der große israelische Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman war am Mittwochabend in den Tagesthemen zu sehen, ein bewegendes Gespräch, zutiefst verzweifelt, aber sehr klar beschrieb er seine Situation und die seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen. Wie könne man überhaupt noch Kinder erziehen, wenn man diese Bilder gesehen hat. Was ihnen sagen? „Wer möchte in einer Realität leben, die solche Monstrositäten zulässt?“ Und doch lebe man in dieser Realität und müsse wissen, wo sein Platz sei. In der FAZ von heute ist ein längerer Beitrag von ihm zu lesen und Grossman wiederholt, was man nicht müde werden sollte zu betonen: „Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein viel schwereres Verbrechen. Auch in der Hierarchie des Bösen gibt es eine Rangordnung, gibt es vom gesunden Menschenverstand und vom natürlichen Gefühl zu unterscheidende Schweregrade.“
Um auf Bernard-Henri Lévy zurück zu kommen: „Es ist ein anhaltender 11. September. Ein Überfall wie auf den Konzertsaal Bataclan, mit Raketen statt Sturmgewehren, abgefeuert aus einem benachbarten Pseudostaat. Es ist ein arabisches Pogrom, dessen Szenen an den Geist des den Nazis nahestehenden Großmuftis al-Husseini erinnern. Kein Argument der Welt kann dieses Verbrechen rechtfertigen, relativieren oder kontextualisieren.“
Ebenfalls in der SZ verzweifelt die junge Meinungsredakteurin Meredith Haaf über Linke, die dem Massaker der Hamas zujubeln: „Es zeigt sich jetzt der destruktive Erfolg jener äußerlich betonharten, aber analytisch butterweichen Ideologie, die bei der Linken unter ‚Israel-Kritik‘ läuft. Federführend ist dabei die ‚Boycott, Divestment, Sanctions‘-Bewegung (BDS), die in ihrem Bestreben, Widerstand gegen die Siedlungspolitik zu zeigen, die Gleichsetzung von Staat und sämtlichen Bürgern Israels sowie die Vermischung von politischer Kritik und Antisemitismus vorangetrieben hat. Hinzu kam jahrelang das Schlagwort der ‚Apartheid‘, auch von Amnesty International breitenwirksam im Nahost-Konflikt-Jargon des Westens verwendet. Der Staat Israel wird so auf Basis verdrehter post-kolonialer Diskurse und im Namen der Freiheit praktisch zum bösesten Staat der Welt erklärt.“
In der Welt geht die amerikanische Journalistin Bari Weiss noch weiter: „Jetzt wissen wir, was für Menschen auf die in Viehwaggons gepferchten Juden geschaut und gesagt hätten: ‚Nun, sie haben die deutsche Wirtschaft untergraben.‘ Nämlich die Menschen, die heute sagen: ‚Das ist eine gerechtfertigte Antwort auf die Provokation, dass Israel existiert.‘ Die Menschen, die jetzt jubeln und Fahnen schwenken, feiern auch nicht die Befreiung der Palästinenser. Der Angriff der Hamas, der am 7. Oktober begann, wird nicht zu einem freien Palästina führen - sondern zu einer schrecklichen Eskalation mit vielen weiteren Toten auf beiden Seiten (das tut es bereits). Die Menschen, die jubeln, feiern den Tod.“
„Wer kann guten Gewissens einen totalitären palästinensischen Staat an Israels Grenze bejahen, wenn seine Vertreter Terroristen als Märtyrer feiern, Erwachsene und Kinder auffordert, zu Messern und Schusswaffen zu greifen, um den angeblich illegalen zionistischen Apartheitsstaat von der Landkarte zu tilgen?“, fragt im Tagesspiegel der Psychologe Louis Lewitan ( Autor u. a von Die Kunst, gelassen zu bleiben), der vor allem aber die Frage stellt, wo Juden heute noch sicher sind: „Erschrocken wache ich auf und kenne die Antwort: Nicht in Halle, nicht in Paris, nicht in Buenos Aires, nicht in Brüssel. Doch wohin, nicht mal Israel ist heutzutage sicher. Israel, das mir bisher ein Gefühl von Stärke und Sicherheit vermittelte, erlebt gegenwärtig sein 9/11. Es ist ein kollektives Trauma, das in die Geschichtsbücher eingehen wird.“
In Berlin war indessen in dieser Woche Premiere im Friedrichstadt-Palast, die größte und teuerste Unterhaltungsrevue, die jemals zuvor produziert worden ist in Berlin, Falling in Love mit 100 Millionen Swarovski-Kristallen und Kostümen von Jean-Paul Gaultier. Johanna Adorján, Enkeltochter jüdischer-ungarischer Holocaust-Überlebender, über die sie ein bewegendes Buch geschrieben hat, berichtet in der SZ: „Als die knapp 1900 Plätze im Saal endlich eingenommen waren, hielt der Intendant des Hauses, Berndt Schmidt, eine kurze Ansprache, die so nett und menschlich war, dass man augenblicklich sein Herz für alles öffnete, was kommen mochte. Mit Worten, die klangen, als meine er sie, sagte der Intendant alles, was man hören musste, wenn man so kurz nach dem Morgen, an dem Terroristen in Israel mehr als die 1000 Menschen heimtückisch ermordeten, in einer Unterhaltungsanstalt saß. In einer Zeit, in der die Welt so voller Gewalt und Kriege ist, dass man den Glauben an das Gute verlieren kann. Das dürfe man aber nicht, sagte der Intendant, man dürfe nicht aufgeben, an das Gute in den meisten Menschen zu glauben, sonst gebe man sich selbst auf. Außerdem sagte er, zusammengefasst, dass dieses Theater und der heutige Abend ein Gegenentwurf zu einer solchen Welt seien. Dass dies ein diverses Haus sei, in dem Menschen aus 28 Ländern, Menschen verschiedener Religionen oder auch konfessionslos, friedlich zusammenarbeiten. Man stehe für Optimismus, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit.“ Ich höre da keine Ironie heraus, keine Distanz, sondern den realen Wunsch von Johanna Adorján, dass das, was mein Kollege da gesagt hat, wahr sein möge. Sie berichtet weiter: „Dann begrüßte er die älteste Person im Saal persönlich, Margot Friedländer, Überlebende des Holocaust. In wenigen Wochen wird sie 102 Jahre alt. Und da saß sie, Reihe 17 Mitte, klein von Gestalt und so groß in ihrer Bedeutung für ihre Heimatstadt Berlin, in die sie, deren Familie von Deutschen ermordet wurde, im Alter zurückkehrte, und guckte ganz wach nach vorn, während der Intendant ihr die volle Solidarität seines Hauses mit allen Jüdinnen und Juden versicherte, sowie mit dem Staat Israel. Und der Saal applaudierte lange.“ Vor dem Friedrichstadt-Palast weht seit längerem eine Fahne mit der Aufschrift: „Jewish roots since 1919“. Ich würde mir wünschen, mehr Menschen um mich herum hätten den Mut meines Kollegen Berndt Schmidt.
Noch einmal zurück zu David Grossman, der sich überhaupt keine Illusionen macht über das, was kommen wird, jetzt, im nächsten Monat, in einem Jahr: „Welche Art Mensch werden wir sein, wenn wir gesehen haben, was zu sehen war? Von wo aus sollen wir von vorn anfangen? Was wird noch möglich sein, nachdem so viel von dem, an das wir glaubten, auf das wir vertrauten, zerstört und verloren ist? Eine Vermutung: Das Land wird nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein. Der uns aufgezwungene Krieg wird dem kollektiven Bewusstsein die hassenswerten Stereotype und Vorurteile, die bisher ein Teil der israelischen Identität waren, verstärkt einprägen. Diese Identität wird dann auch das Trauma des Jahres ’23 aufsaugen; sie wird das Wesen der Politik bestimmen, den inneren Riss, die Polarisierung vorantreiben.“
Aber und noch einmal ein Aber: „Was sich in den letzten Tagen offenbart hat, lässt sich mit Israels Vorgehen und Vergehen in den besetzten Gebieten seit 1967 weder relativieren noch rechtfertigen. Ich spreche von der Tiefe des Israelhasses, von der schmerzhaften Einsicht, dass wir Israelis nun wohl auf ewig unter höchster Anspannung und in ständiger Kriegsbereitschaft leben müssen. Immerzu fragend, ob uns jemals ein normales, von Angst und äußerer Bedrohung freies Leben vergönnt sein wird. Ein dauerhaft geborgenes Dasein. In einem behüteten Heim.“
Das Theater Bremen ist ein großes Haus mit vielen Menschen, die in ihm arbeiten. Es beherbergt auch viele Haltungen und Meinungen. Auch Verzweiflung, Ratlosigkeit, Überforderung. Zu der man durchaus stehen kann und die man zulassen muss. In einer SMS hatte ich geschrieben: „Ich glaube schon, dass man jetzt sagen muss, wo man steht.“ Eine Antwort war „Ja das glaube ich auch. Also?“ – „An der Seite Israels. Ganz einfach“, war meine Antwort. Ganz einfach?
Dieses Theater und jeder Abend in ihm ist ein Gegenentwurf zu der Welt da draußen. („Welt, was bist du für ein hinterhältiges, gewalttätiges, egoistisches Arschloch“, schrieb mir eine Kollegin in einer SMS.) Auch das Theater Bremen ist ein diverses Haus, in dem Menschen aus sehr vielen Ländern, Menschen verschiedener Religionen oder auch konfessionslos, friedlich zusammenarbeiten. Auch wir stehen wie der Friedrichstadt-Palast und wie so viele andere Häuser für Optimismus, Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit. Wie schwer oder kompliziert wir uns auch tun mit der Solidarität mit Israel.
Veröffentlicht am 13. Oktober 2023