Wenn das Leben nicht nur eine Geschichte des Aufstiegs ist

Der Dramatiker Ewald Palmetshofer im Gespräch mit Dramaturgin Sonja Szillinsky über Vor Sonnenaufgang, das im Theater am Goetheplatz Premiere feiert.

Vor Sonnenaufgang ist eine Überschreibung des gleichnamigen Dramas von Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1889. Wie haben Sie sich der Vorlage genähert – welche Elemente wollten Sie behalten? An welchen Punkten sind Sie besonders stark abgewichen?

Ich hatte davor an einer Neudichtung bzw. Überschreibung von Christopher Marlowes Edward II. gearbeitet, worin die Sprache des englischen Originals eine ganz wesentliche Partnerin war. Ich hatte eigentlich erwartet, dass es sich bei Hauptmanns Text ähnlich verhalten würde. Tatsächlich stellte sich aber heraus, dass ich nicht von Hauptmanns Sprache (etwa dem schlesischen Dialekt), sondern nur von seinen Figuren ausgehen kann. Ich musste mich von der Sprache des Originals lösen. Das Dialektale hätte zwischen den Figuren, aber vermutlich auch zwischen den Figuren und dem Publikum, eine Art Klassendifferenz eingeführt, die ich nicht reproduzieren wollte. Ich wollte, dass die Figuren aus einem sprachlich ähnlichen Feld heraus sprechen, das sie uns als Publikum näher rückt, als es bei Hauptmann der Fall ist. Im gleichen Schritt habe ich die Anzahl der Figuren reduziert und auf die Hausangestellten oder das bäuerliche Personal verzichtet und die Familie Hoffmann-Krause sozial im Bereich des mittelständischen Gewerbes verortet. Ich habe Helene und Frau Krause eine Arbeitsbiografie gegeben und Martha als zentrale Hauptfigur in das Stück hineingeschrieben und für ihre Erkrankung eine Entsprechung in der Gegenwart gesucht – um nur einige Veränderungen zu nennen.

Bei Hauptmann sind die Frauenfiguren eher Randfiguren und entsprechen dem Rollenbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Über Martha und ihre Krankheit – bei Hauptmann ist es Alkoholabhängigkeit, bei Ihnen Depression – wird nur gesprochen, die Figur tritt kein einziges Mal auf. In Ihrer Überschreibung sind die drei Frauen präsenter, sprechen für sich selbst und kämpfen um ihren Platz. Den großen gesellschaftspolitischen Diskurs dürfen in Ihrem Stück aber auch drei Männer führen: Hoffmann, Loth und Schimmelpfennig. Warum? 

Ich verstehe, was Sie meinen, sehe das aber ein bisschen anders. Zum einen würde ich da Schimmelpfennig gleich ausnehmen. Sein Monolog läuft für mich quer zum Gesellschaftspolitischen. Zum anderen stolpere ich über das Wort „dürfen“. Ich wollte hier von einem Mann – in dem Fall von Loth – ausgesprochen hören, dass er mit seiner Weisheit am Ende ist. Für mich ist das lange Gespräch zwischen ihm und Hoffmann die Bankrotterklärung einer nicht zuletzt „männlichen“ politischen Position. Und ich wollte, dass er es selbst sagen muss, dass er es selbst erkennt, zugibt und ausspricht. Er ist politisch am Ende, während der andere politisch den Hass bewirtschaftet.

Helene wendet sich als einzige Figur direkt ans Publikum. In ihren Monologen verwendet sie eine poetischere, nahezu biblische Sprache. Welche Einsichten gewährt sie uns damit? 

Für mich sind Helenes Monologe Ausdruck dessen, was in diesem Haus und dem Diskurs von Loth und Hoffmann gerade nicht vorkommt. Sie spricht vom Prekären des Lebens, davon, dass Leben nicht nur eine Geschichte des Aufstiegs ist, dass es sich der Machbarkeit entzieht und radikal verletzlich ist. Darüber hinaus spricht sie von dem, was sie ihrer Familie verschweigt – ihr finanzieller Ruin –, und von einer Zukunft als Leben in der Verminderung, als Leben im „Weniger“. Gibt es Würde im Scheitern, der Einsamkeit und Verzweiflung? Ich halte das für gesellschaftspolitisch, sie sucht und findet jedoch dafür eine andere Sprache als die anderen Figuren im Stück.

Alfred Loth konfrontiert Thomas Hoffmann mit der These von der polarisierten Gesellschaft: „wir driften / auseinander / die Menschen / alle“, glaubt er. Teilen Sie diese gesellschaftliche Beobachtung?

Ja, ich befürchte, dass ich diese These noch immer teile. Und ich glaube, dass seit der Entstehung des Stückes die Polarisierungen zu bestimmten Themen noch tiefgreifender und komplexer geworden sind. Wir haben seither die demokratiebedrohende Wirkmächtigkeit „alternativer Fakten“ – also Lüge – erlebt, und gesehen, dass diese zusammen mit entsprechenden Erregungspotenzialen letztlich der Rohstoff sind, aus dem viele „soziale Medien“ ihren monetären Gewinn erwirtschaften. Wir haben die schwierigen Aushandlungsprozesse und auch Verwerfungen einer Pandemie erfahren – wer hätte gedacht, dass an virologischen Fragen und Impfentscheidungen Freundschaften zerbrechen. Protestbewegungen wurden und werden von extremistischen Splittergruppen unterwandert oder zumindest widerspruchslos flankiert. Und wir sehen eine Art „Binnenpolarisierung“ innerhalb politischer oder aktivistischer Felder, die bislang als eher homogen wahrgenommen wurden; dies vor allem – und das ist vielleicht ein Mitgrund für dessen Schwächung – aufseiten des politisch linken Spektrums: Das geht von der Haltung gegenüber dem Angriffskriegs Russlands/Putins gegen die Ukraine, gegenüber dem Terrorangriff der Hamas und der Situation in Israel und Gaza bis hin zu beispielsweise Fragen der Rechte von trans* Personen innerhalb unterschiedlicher feministischer Bewegungen. Diese Binnenspaltungen verlaufen offenbar entlang großer ideologischer Bruchlinien, aber auch entlang feiner, jedoch nicht minder scharfer Differenzierungen.

Das Stück endet in der Katastrophe. Schimmelpfennig sagt kurz zuvor: „die Menschheit insgesamt liegt in der Agonie / da gibt’s kein Mittel keine Medizin dagegen / man kriegt die Menschlichkeit vom Menschen halt nicht weg“. Gehen wir mit dieser pessimistischen Einsicht nach Hause? Oder besteht noch Hoffnung für die Menschheit und wenn ja, worin?

Nein, ich finde nicht, dass Schimmelpfennig mit seinem Satz jene Einsicht liefert, mit der man nach Hause geht. Zwar hat er vermutlich recht, aber das hilft hier niemandem. Für mich gibt es vielmehr nach der Katastrophe im Stück eine fast verschwindende Geste. Diese liegt nicht in der Sprache – und das ist hier ein wichtiger Punkt! Sie kommt im Text nur als Regieanweisung vor. Ich meine den Moment, wenn Helene umkehrt, zurück ins Haus geht und die einzige Person ist, deren Berührung und Nähe Martha ertragen kann. Helene streichelt sie, hält sie fest und hilft ihr hoch. Von den Männern ist hier nichts zu erwarten: Der eine ist besoffen, der andere ist kalt und wird weggetreten, der dritte ist inkompetent und der vierte ist schon längst davongelaufen. Es ist diese Geste Helenes, worin vielleicht Hoffnung liegt – dass in Schmerz und Elend jemand da ist, bleibt, uns nicht verlässt.

 

 

Veröffentlicht am 15. April 2024