NICHTS GEHT FÜR IMMER VERLOREN

Vor 29 Jahren stand Schauspielerin Irene Kleinschmidt in Tony Kushners Drama „Engel in Amerika“ auf der Bremer Bühne. Das steht jetzt in der Vertonung von Péter Eötvös auf dem Opernspielplan und ist ab Anfang April im Theater am Goetheplatz zu sehen. Dramaturgin Brigitte Heusinger hat mit Irene Kleinschmidt gesprochen.

Brigitte Heusinger: 29 Jahre ist es her, dass du als Harper in dem Schauspiel von Tony Kushner „Engel in Amerika“ im Theater am Goetheplatz auf der Bühne gestanden hast, in dem Stück über die Aidsepidemie in den 80er Jahren in New York.

Irene Kleinschmidt: Die Arbeit stand am Beginn der Ära von Intendant Klaus Pierwoss, sie hat uns als Ensemble zusammengeschweißt. Wir waren eine neue Truppe mit ganz viel Energie. Wir wollten was. Wenn ich an die Inszenierung von Christina Friedrich zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an rasante Umbauten, die mit Musik untergelegt waren. Es hat uns einen irrsinnigen Spaß gemacht, „on time“ Möbel von A nach B zu schieben. Aber die Produktion hatte nicht nur ganz viel Schwung, sie hat vor allem berührt.

Das ist ja die Stärke des Stücks wie der Oper, beide haben viel Humor und sind trotzdem tieftraurig.

Irene Kleinschmidt: Ich trage einen Satz, den Harper sagt, immer noch mit mir herum: „Nichts geht für immer verloren, jedenfalls glaube ich das ...“. Dieser Bühnenmoment ist mir geblieben, diesen Schatz habe ich eins zu eins in mir festgehalten.

Ich habe mich gerade mit einem Mitarbeiter aus dem Rat und Tat-Zentrum, der Interessenvertretung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Personen, unterhalten. Er berichtete, dass es eine sehr enge Zusammenarbeit gegeben hat.

Irene Kleinschmidt: Damals haben uns ein älterer und ein jüngerer Mann für die Darstellung der homosexuellen Szenen beraten, und wir haben von ihrem umfassenden Wissen über das Thema Aids profitiert. Beide waren so froh, dass wir uns gleich in der ersten Spielzeit dem Thema angenommen und die Liebe der schwulen Paare im Stück so ernst genommen haben. Ich sehe sie noch auf der Premierenfeier gemeinsam Walzer tanzen. Es war so berührend zu sehen, wie glücklich sie waren. Es hat mich immer gefreut, wenn ich bei etwas hochgradig Sinnvollem dabei sein durfte. Das ist etwas ganz Besonderes, das gibt es nicht von der Stange.

Dir ist es ausgesprochen wichtig, dass deine Arbeit anschlussfähig ist.

Irene Kleinschmidt: Ja, ich suche Kontakt außerhalb unserer Blase, wie bei Wölfinnen, wo wir im Anschluss an die Vorstellung immer Nachgespräche mit einer Traumapädagogin führen. Ich versuche, die soziokulturelle Aufgabe des Theaters sehr ernst zu nehmen.

„Engel in Amerika“ ist nicht nur ein Stück über Homosexualität, sondern auch über andere Themen. Deine Figur, Harper, ist valiumsüchtig. Ihr Mann Joe steht vor seinem Comingout und ihr wird erst langsam klar, warum er sie körperlich nicht mehr begehrt.

Irene Kleinschmidt: Ihre Sucht ist ein Versuch, aus ihrer Realität auszubrechen. Und ich habe durchaus Verständnis dafür, dass man, wenn sich etwas festgezurrt hat, zu Mitteln greift, um in andere Welten zu entfliehen.

Morphium- wie Valiumgebrauch rechtfertigen im Stück eine andere Ebene: die übersinnliche. Der Plot hat eine sehr klare Erzählstruktur mit fünf Männern und drei Frauen, deren Schicksale wie in einer modernen Netflix-Serie miteinander verwoben sind. Der Plot ist so operntauglich, weil er zudem, durch eine weitere Erzählebene, Platz für Unbewusstes lässt – die Erzählebene der Drogenträume. Hier erscheinen den Träumenden unter anderem leibhaftige Engel. Die Engel werden meist von den Darsteller:innen der anderen Rollen verkörpert. Warst du auch ein Engel?

Irene Kleinschmidt: Ja, eine meiner beiden Brüste war entblößt und ich hatte ein dunkelblaues Kleid an mit vielen, vielen Augen darauf und riesige schwarze Flügel.

Das Stück wirkt im Nachhinein wie eine Vorsehung.

Irene Kleinschmidt: Ja, du kannst ruhig schreiben, dass ich jetzt seit elf Jahren lesbisch lebe. Damals hätte ich mir das nie träumen lassen.

Das ist doch irgendwie schön, dass du als heterosexuell orientierter Mensch vor knapp 30 Jahren in einem Stück, das Homosexualität thematisiert, mitgespielt hast und jetzt als lesbisch lebende Frau wieder drauf schauen kannst.

Irene Kleinschmidt: Ja, nach „Engel in Amerika“ habe ich die lesbische Gräfin Geschwitz in „Lulu“ gespielt. Man weiß letztlich nicht, was was beeinflusst und ob und wann eine Möglichkeit geöffnet wird, die wir wohl alle in uns haben.

„Engel in Amerika“ ist ein hartes Stück und Homosexualität war damals längst noch nicht wie heute in der Öffentlichkeit angekommen. Gab es empörte Zuschauerreaktionen?

Irene Kleinschmidt: Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Wir haben eher heute einen geschärften Blick. In der Produktion Drei Schwestern gab es Diskussionen und Reaktionen über die Darstellung des schwulen Stabskapitäns Soljonyi, der recht zerstört gezeichnet ist. Beim Fernsehen denke ich so oft, warum muss jetzt wieder die lesbische Frau die Mörderin sein oder sich selber umbringen? Warum kann sie nicht einfach eine komplexe Frau wie jede andere sein, ohne eine Katastrophengeschichte im Hintergrund?

Ja, mit dieser Sensibilität im Gepäck fragt man sich heute auch, warum es eigentlich Harper, also eine Frau sein muss, die bei Kushner frustriert zuhause sitzt und Tabletten frisst.

Irene Kleinschmidt: Was habe ich viele aus Eifersucht und Not verzweifelte, einsame Frauen gespielt …

Was dann schon auch eine Realität abgebildet hat …

Irene Kleinschmidt: Ich bin 1994 nach Bremen gezogen und kam aus dem Osten, aus Erfurt, wo ich gewohnt habe und von dort aus freischaffend in Weimar, Leipzig und am Maxim Gorki Theater gastiert habe. Diese Hausfrau Harper, das war für mich explizit Westen. Ich habe diese Figur sehr gemocht und fand sie absolut verteidigungswürdig, aber meine Realität war sie nicht.

 

 

Veröffentlicht am 30. März 2023