Nochmal in die Augen schauen

Ein Text von Simone Sterr, Intendantin des Stadttheater Gießen und von 2015-2020 Leitende Dramaturgin im Schauspiel am Theater Bremen.

Wir hatten uns schon etliche Male getroffen, Meinungen über Inszenierungen ausgetauscht, über Autor:innen und Texte debattiert, über Spieler:innen und über Regiehandschriften geredet, über Erwartungen an das Theater und aneinander – über alles eben, worüber man deutlich sprechen muss, bevor man sich für eine Zusammenarbeit entschließt. Und worüber man glücklich ist, wenn man jemanden findet, mit dem man das kann.

Der Aufbruch am Theater Bremen ging bereits ins dritte Jahr. Nun sollte ich dazu kommen. Und ich wollte. Wollte ein Teil werden dieses Projektes von STADTTHEATER.

Ich spielte auf Risiko und sagte bei einem anderen Theater ab. Längst hatte ich mich entschieden; für die Stadt, dieses Haus, den Geist, den Michael als Intendant versprühte. Und er? Nahm sich Zeit. Fuhr für ein paar Tage nach Juist. Wind um die Nase. Luft in den Kopf. „Und danach treffen wir uns und schauen uns nochmal in die Augen“.

Wir haben uns getroffen, uns in die Augen geschaut und uns verabredet für die nächsten Jahre.

Zaudern und Zupacken. Skepsis und Treue. Zögerlichkeit und Verlässlichkeit. Das mussten keine Widersprüche sein. Nicht bei Michael.

Wir haben uns dann noch sehr oft in die Augen geschaut. Am großen Tisch im geräumigen Büro, mit der immer für alle verfügbaren Kaffeemaschine und der offenen Aussicht in den Bremer Himmel.

„Nochmal in die Augen schauen“, darauf verständigte er sich gerne. Bei einem verzwickten Problem, das gerade nicht zu lösen war. Bei einer Entscheidung, die er ad hoc nicht treffen konnte oder wollte. Wenn es besonders heiß herging und wir einfach nicht weiterkamen.

Es hieß, sich ehrlich machen, sich nichts vormachen, Unsicherheit zulassen, Verletzbarkeit zeigen, entweder einen Konsens finden oder den Mut, Uneinigkeit stehen zu lassen. Aufrichtig sein. Und gerade. Das ist so unendlich viel in einer Welt voll vorgegaukelter Stärke und aufgeblasener Egomanie.

Irgendwann trug Michael dann Brille. Dahinter wirkten seine Augen noch größer. Diese klugen, guten, aufmerksamen Augen, in deren Winkeln es immer ein bisschen lächelte. Mit denen er so viele Menschen gesehen hat. Nicht nur wahrgenommen, sondern wirklich gesehen.

Ein Blick noch. Ein letzter. Sich in die Augen schauen. Noch einmal. Das wäre gut gewesen.

So ein bedachter Mensch und solch ein überstürzter Abgang. Das lässt sich einfach nicht verstehen.

„Widersprüche muss man aushalten“, höre ich Michael sagen. „Aber doch nicht diesen“, will ich ihm wütend an den Kopf werfen. Aber mir versagt die Stimme.

 

 

Veröffentlicht am 16. Januar 2025