Ohne Michael ist Bremen sehr leer geworden
Zum Tod von Michael Börgerding ein Text von Katinka Deecke, die den Start seiner Intendanz in Bremen begleitet hat.
Michael war mein erster Intendant. Er war selbst noch grün hinter den Ohren, als ich ihn kennenlernte, sicher nicht in Hinblick auf Lebens- und Theatererfahrung, er war ja immerhin schon Anfang 50, als er die Bremer Intendanz antrat. Aber Intendant war er noch nie gewesen und wie er sich dieses komplizierte Amt zurechtformen würde, war noch völlig unklar. Der 2. Januar 2012 war der erste von vielen Tagen, an denen Michael und ich uns im Büro trafen. Wir gehörten beide zu denjenigen, die vergleichsweise früh am Morgen da waren, ich glaube, auch Michael mochte, dass das Theaterleben am Morgen noch leise und vorsichtig ist, morgens kurz vor um 9 Uhr ist es im Büroflur eines Theaters besonders still. An diesem unserem ersten Morgen des 2. Januar 2012 trafen wir uns in dem winzigen so genannten „Vorbereitungsbüro“ im hintersten Winkel des Theater Bremen, wo die neue Intendanz sich ungestört (und nicht störend) auf das Kommende vorbereiten sollte. Michael hatte mich als seine Referentin engagiert, obwohl er mich kaum kannte, und ich in Intendanzfragen noch viel, viel unerfahrener als er war.
Die Vorstellung, die Erwartungen dieses klugen und höflichen Theatermanns erfüllen zu sollen, ehrte und überforderte mich gleichermaßen.
Ich erinnere mich, wie nicht nur ich, sondern auch Michael in diesen ersten Tage und Wochen recht unbeholfen war – unversehens fanden wir uns in diesem winzigen Vorbereitungsbüro wieder, zwei sich ganz fremde Menschen aus verschiedenen Generationen tagein tagaus auf vielleicht sechs Quadratmetern und gemeinsam sollten wir nun herausfinden, was eine Intendanz den lieben langen Tag so macht.
Im Laufe der Zeit haben wir uns aneinander gewöhnt und die Monate, die Michael und ich in dem Vorbereitungsbüros verbrachten, wurden zu einer festen Basis, auf die wir nicht nur die nächsten Jahre bauen konnten, sondern die uns auch über das Ende unserer gemeinsamen Arbeit hinaus verbinden sollten. Dieses Fundament, das wir während der Vorbereitungszeit der Intendanz aufgebaut hatten, benötigten wir um so dringend, als die erste Spielzeit endlich losgegangen war.
Was für einen Sturm hatten wir da bloß alle miteinander angezettelt …
Es war nicht nur Michaels erste Spielzeit als Intendant, sondern fast alle Dramaturg:innen und Spartenleiter:innen, die wir nun vollzählig in Bremen versammelt waren und blutjung unseren Theaterträumen nachhingen, waren zum allerersten Mal in solch verantwortungsvollen Positionen, vom Chefdramaturgen über die beiden Operndirektoren bis hin zu den Leiter:innen der Tanzsparte und zur Marketingchefin hatten die meisten von uns keine Ahnung, was eine Theaterleitung bedeutet. Lauter Greenhorns um die 30 mit hohen Ansprüchen, unendlicher Kraft, ebenso viel Liebe und entsprechend wenig Ahnung. Wir wollten ungewöhnliche Sachen machen, wollten vor allem in ästhetischer Hinsicht keine Kompromisse machen, wollten wie jede Generation vor und nach uns das Theater neu erfinden und keine Rücksicht nehmen auf budgetäre Zwänge oder Publikumsgewohnheiten.
Und mittendrin in diesem Haufen junger Leute der gestandene Dramaturg Michael Börgerding.
Im Stillen, so male ich mir aus, hat er sich vielleicht mehr als einmal gewundert, wie ausgerechnet er, der gebildete, stilvolle Kulturbürger mit ausgesuchtem Kunstsinn inmitten dieser jungen Truppe landen konnte, die das von ihm neu verantwortete Theater Bremen in einen ambitionierten, liebevollen Wirbel aus Avantgarde und Leidenschaft schubsten. Dabei hatte er selbst es natürlich so gewollt und bis heute fühle ich Michaels irritierten, aber geduldigen Blick auf uns ruhen. Vieles, was wir uns ausgedacht hatten, fand er überambitioniert, langweilig, undurchdacht, daraus machte er nie einen Hehl.
Nichtsdestotrotz, er schenkte uns sein Vertrauen und ließ uns machen.
Er hatte sich für uns als seine Partner:innen entschieden und damit auch ein gewisses Maß an Kontrollverlust in Kauf genommen. Michael war bereit, sich überraschen zu lassen, und anzuerkennen, wenn seine Befürchtungen unbegründet waren, genauso wie er nie hämisch war, wenn sie sich als begründet herausgestellt hatten. Darin zeigte sich sein großes, von sich selbst absehendes Vertrauen in die manchmal nicht ergründlichen Wunderkräfte des Theaters, das im Zusammentreffen von bestimmten Künstler:innen, Strukturen und lokalen Gegebenheiten unberechenbare Schönheit und Kraft entfaltet.
Michael wusste, dass Theater in seinem Kern von der Freiheit der Menschen abhängt, die es machen, und er war bereit, wenn auch manchmal mit Zähneknirschen, diese Freiheit zu gewähren und ihre Risiken in Kauf zu nehmen.
Nach drei Spielzeiten habe ich Bremen verlassen. Vor allem Michaels wegen war dieser Abschied sehr, sehr schwer. Die Zeit im Vorbereitungsbüro und die drei darauffolgenden Jahre hatten uns auf eine freundschaftliche Weise Vertrauen zueinander fassen lassen. Michael hat mir seine Enttäuschung nie nachgetragen, sondern mich jedes Mal warm und herzlich in Empfang genommen, wenn ich ihm und Bremen einen Besuch abstattete. Ohne Michael nun ist Bremen sehr leer geworden.
Veröffentlicht am 5. Februar 2025