Opera miniature: Insekten im Pop-up-Theater
Alcina, die verworrene Handlung und die Vernunft, erklärt von Dramaturgin Dany Handschuh anhand des Bühnenbildmodells.
Die Fotos basieren auf dem Bühnenbildmodell von Thilo Reuther und den Figurinen von Regine Standfuss, die in Vorbereitung auf die Produktion entstanden sind.
„Man würde Händels Alcina nicht gerecht werden, wenn man sie ausschließlich auf ihre Handlung reduziert.“ So beschreibt der Regisseur Michael Talke seine Annäherung an das barocke Werk. Er führt aus: „Denn vordergründig möchte sie gar keine erzählen, auch wenn sie natürlich eine hat. Vielmehr wird die Handlung als ein Gerüst benutzt, um darin eine Vielzahl von Affekten zu verankern, die zum Kern der Oper führen: dem symbolischen Kampf zwischen Gefühl und Verstand.“ Sowohl dieser wohl niemals endende Kampf als auch die durchlebten Emotionen sind durch die Zeiten hinweg unverändert geblieben: das Entstehen einer neuen Liebe, der schmerzliche Verlust einer alten, die blinde Wut durch das Erleben von Verrat und tiefer Kränkung, Selbstzweifel, unterdrücktes Begehren, Macht und Ohnmacht. Diese Emotionen sind es auch, die einem heutigen Publikum Alcina so vertraut machen. Gleichzeitig sorgen sie für allerhand Verwirrung: Wer einmal das Karussell der Gefühle betritt, wird gnadenlos mitgerissen – kein Wunder also, dass die Figuren schon bald nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht und durch Arien versuchen ihr Empfindungs-Chaos versteh- und greifbar zu machen.

„Ouverture“ – Die Figuren im Gefühlskarussell
Ein Seitensprung bringt die Emotionen gleich zu Beginn rasant in die Gänge: Ruggiero verlässt seine Verlobte Bradamante, um mit der Zauberin Alcina auf ihre Insel durchzubrennen. Was er nicht weiß: Sobald sie ihrer Liebhaber überdrüssig geworden ist, verwandelt sie diese in Tiere, Bäume oder Steine. Bradamante, die von Ruggieros Verschwinden tief getroffen ist, macht sich tatkräftig auf, den Verlobten zurückzuholen. Gemeinsam mit dem Freund des Paares Melisso folgt sie Ruggiero in Alcinas Reich. Und um von ihm nicht gleich erkannt zu werden, verkleidet sich Bradamante als ihr eigener Zwillingsbruder Ricciardo. Auf der Insel angekommen treffen Melisso und sie auf Morgana, Alcinas kleine Schwester, und ihren eifersüchtigen Liebhaber Oronte. Sofort verliebt sich Morgana in Ricciardo/Bradamante und lässt Oronte fallen.

„Di‘, cor mio“ – Lust und Schmerz
Unbeschwert und ungehemmt frönen Alcina und Ruggiero ihrer Liebe. Bradamante und Melisso sind schockiert, aber können den Blick kaum von dem lustvollen Paar abwenden.

„È gelosia“ – Verlangen und Eifersucht
Morgana wirbt um Ricciardo/Bradamante und Oronte wird eifersüchtig. Und dazwischen versucht eine verkleidete Bradamante ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten: das Verlangen nach ihrem Verlobten, die Eifersucht auf Alcina und den Schmerz darüber, von einem geliebten Menschen fortgestoßen worden zu sein.

„Pensa a chi geme“ – Treue und Vernunft
Melisso wird aktiv und wäscht Ruggiero gehörig den Kopf. Er erinnert ihn an seinen Treueschwur gegenüber Bradamante. Ruggiero muss sich nun entscheiden – Alcina oder Bradamante, Lust oder Liebe, Gefühl oder Vernunft.

„Ama, sospira“ – Macht und Ohnmacht
Alcina will Ricciardo/Bradamante in ein Tier verwandeln. Trotz Morganas und Ruggieros Bitten, ihn/sie zu verschonen, setzt sie ihren Plan in die Tat um – nur um Ricciardo/Bradamante nach einer kleinen Weile wieder zurückzuverwandeln. Von Alcinas herrischer Willkür abgestoßen beschließt Ruggiero mit Bradamante und Melisso von der Insel zu fliehen.

„Verdi prati“ – Sehnsucht und Bedenken
Die Flucht von der Insel beginnt, doch wird durch eine plötzlich auftauchende Morgana verhindert. Mit Schrecken begreift sie, dass Ricciardo/Bradamante bereits vergeben ist, sie ihn/sie niemals besitzen wird – ihr Herz zerbricht. Und Ruggiero hadert mit sich, er ist noch nicht bereit, in sein altes Leben zurückzukehren. Ein letztes Mal will er Alcina sehen und ihr sagen, warum er sie verlassen muss.

„Ma quando tornerai“ – Zorn und Verzweiflung
Ruggiero teilt Alcina seinen Entschluss mit, sie zu verlassen. Erst jetzt, da er sich ihr entzieht, bemerkt sie, dass sie ihn aufrichtig liebt – jedoch zu spät. Sie wütet, sie droht, sie tobt, sie bittet ihn zu bleiben. Als ihn nichts von seinem Vorhaben abbringen kann, die Insel zu verlassen, sieht sie nur noch einen Weg: Konfrontation. Sie hetzt ihre Tiere auf ihn. Doch sie verliert – alles.
Und so geht die Vernunft als strahlender, wenngleich leicht lädierter Sieger aus dem Kampf mit dem Gefühl hervor. Das Karussell der Emotionen kommt zum Stillstand, doch Händels Musik, und auch die Inszenierung, zweifelt an dem Happy End. Sie fragt: Was wäre denn eine gesunde Mischung zwischen den Extremen – zwischen Ordnung und imaginärer Wunscherfüllung, zwischen Kontrolle und Rausch, zwischen Vernunft und Gefühl? Die Antwort bleibt sie schuldig, denn es ist die Suche danach, die von Interesse ist. „Wo Gegensätze sich berühren, beginnt die Vorstellungskraft.“ (Kurz Haberstich) – Und gleichzeitig auch die Suche nach dem eigenen Weg. Dabei kann man sich schon gelegentlich abhandenkommen.