Operngegenwart?

„Nenn ich dich Aufgang oder Untergang?“ Mit diesem Rilke-Zitat beginnt der Kulturwissenschaftler Norbert Abels seinen Text zur Oper. Abels wird bei der Diskussionsrunde Offen_Reden. Was für ein Musiktheater mit auf dem Podium sitzen.

Ein wahres und deshalb auch heute noch gültiges Wort vorab: „Die Kraft“, schrieb Theodor W. Adorno 1968 in seinen musiksoziologischen Vorlesungen, „welche“ – wohl nach wie vor – „die Menschen an die Oper bindet, ist die Erinnerung an etwas, woran sie sich gar nicht mehr erinnern können, die legendär goldenen Zeiten des Bürgertums, die erst im eisernen Zeitalter einen Glanz gewinnen, den sie nie besaßen.“ Die Geschichte des neuzeitlichen okzidentalen Kulturverständnisses war vom Aufstieg des Bürgertums geprägt. Zu dessen essenziellen Repräsentationen gehörten, oft mit emanzipatorischem Elan betrieben, die Theater. Zumal die durch und durch synkretistische Kunstform Oper. Einst in Adelsräumen anhebend, geriet sie im Gang der Epochen endlich zum sakrosankten Ort der Darstellung der aufgestiegenen, vom Pathos des Fortschritts affizierten Bildungsschicht. Noch deren artifizielle Weltuntergangsszenerien etwa bei Wagner bewahrten jenes exklusive Selbstverständnis. Zu ändern daran vermochten auch die vielfarbig provokanten Avantgardebewegungen der Moderne nicht. Erst mit der um die Jahrtausendwende beständig deutlicher ins Auge fallenden Erosion der europäischen Bildungsschicht stellt sich auch die Erwartung der Erosion ihrer originären Kunstform ein. 

Das Musiktheater scheint in die Jahre gekommen zu sein. 

Seine Akzeptanz wankt. Seine vermeintlich so unverzichtbare Suggestionskraft wankt unter der Last eines sie unaufhaltsam bedeckenden historischen Meltaus. Wie überlebt ein vom nicht nur ökonomisch schwächelndem Bildungsbürgertum subventionierter Anachronismus, wenn ihn die Alten, die ihn noch hartnäckig verteidigen, nicht mehr erleben können? Taugt die Gegenwart, taugt unsere unmittelbare, vielleicht auch alltägliche Lebenswelt nichts für eine Kunstform, die nur in ganz wenigen Episoden ihrer Entwicklung die eigene Zeit entdecken wollte? Gehört zu einer immer mehr als anachronistisch empfundenen Kunstform auch stofflich die Abstinenz vom Hier und Jetzt? Hätten die der Neuen Musik immer entgegengebrachten Ressentiments des Publikums sich noch vergrößert in der Konfrontation mit Sujets aus dem Dasein eben dieses Publikums?

Einzig in die Ästhetik der Inszenierung hat die Gegenwart ihren Einzug gefunden. 

Sie ist denn auch das Hauptangriffsziel geworden. Wir alle kennen die uns von unserem Publikum oft bange gestellte und zumeist auf Bühnenbild und Kostüm zielende Frage: Ist die Regie modern? Zeitgenössische Werke haben es inzwischen leichter, bei ihrer Uraufführung nicht ausgebuht zu werden als über die erste Aufführungsreihe jemals hinwegzukommen. Ein Publikum, das einst bei Schönbergs Pierrot Lunaire vor Wut tobte und bei Hindemiths Einaktern die Polizei holte, gibt es heute nicht mehr.

Zu den Tatsachen des gegenwärtigen Musiktheaters gehört dessen ansteigende Unterdosierung an Gegenwart. 

Immer stärker werden die von außen auferlegten Zwänge, diese von der Bühne fernzuhalten. Kaija Saariahos Innocence, The Death of Klinghoffer von John Adams, Adriana Hölszkys Bremer Freiheit, Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern, Hans Werner Henzes Verratenes Meer, Olga Neuwirths Lost Highway oder Mark Andres’ Musiktheater Passion ... 22,13 ...: Solche kaum miteinander zu vergleichenden Werke gehören zu der stark limitierten Reihe von Versuchen, das Jetzt unseres Daseins einzufangen. Ins sogenannte Repertoire schafften sie es nicht. 

Als Pfahl im Fleisch des Opernbetriebs hat sich stets noch seine Rückwärtsgewandtheit behauptet.

Zum häufigsten Gemeinplatz der ästhetischen Reflexion sind nach Hegel die Spekulationen über das Ende der Kunst geworden. Für Nietzsche war klar absehbar, dass der Künstler der Zukunft als museale Kuriosität durch die Welt schreiten würde. Hatte der couragierte Kultur- und Opernhistoriker Michael Walter nicht recht, als er formulierte, dass möglicherweise die Opernhäuser zusammen mit den Museen „die letzten Rückzugsstätten des Bildungsbürgertums der letzten 150 Jahre“ seien. Und eben dies, „weil das Bildungsbürgertum selbst Teil des Museums ist, das es bewundert.“ Sollte man inzwischen gar von Ruhestätten sprechen? Oder gilt dagegen das alte Mythologem von jenem Feuervogel noch, der bei Sonnenaufgang in der flammenden Morgenröte verbrannte, um hernach aus der Asche verjüngt wieder aufwärtszufliegen? Ascheberge freilich sind bisweilen auch durch fehlende Magnazufuhr erloschene Vulkane. Deshalb sollte man am besten einen fruchtbaren Boden suchen, um das musikalische Spiel wieder auferstehen zu lassen. Wir erinnern uns deshalb an jenen klugen Zukunftsvorschlag: „Ei was, du Rotkopf“, sagte der Esel, „zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall. Du hast eine gute Stimme, und wenn wir zusammen musizieren, so wäre dies wohl fantastisch.“

 

Unser Autor

Norbert Abels studierte Literatur- und Musikwissenschaft, Philosophie und Judaistik. Autor zahlreicher kulturkritischer Studien und Bücher. Seit 1980 Literaturdozent am Media-Campus Frankfurt. Seit 1985 an der Oper Frankfurt tätig, ab 1997 bis 2019 als Chefdramaturg. Seit 2005 Professor für Theaterdramaturgie an der Folkwang-Universität der Künste, seit 2006 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Zahlreiche Gastdramaturgien, u. a. von 2003 bis 2010 bei den Bayreuther Festspielen sowie auf internationalen Bühnen. Seit 2002 hat er einen Lehrauftrag für Literatur-, Kultur- und Theatergeschichte sowie Musikdramaturgie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Er ist Mitglied der Akademie der Künste. 

 

 

Veröffentlicht am 23. April 2024