Osteuropa (ver)lernen
Ein Plädoyer für eine neue Geschichtskultur von Elisa Satjukow anlässlich des zweiten Teils der Reihe „Ostopie“, die das Theater Bremen gemeinsam mit der Heinrich Böll-Stiftung Bremen und der Jungen DGO veranstaltet.
Während die deutsche Wikipedia einen umfangreichen Artikel über die Osteuropäische Geschichte und ihre vier „Teilregionen“ Ostmitteleuropa, ehemalige Sowjetunion, Nordosteuropa und Südosteuropa/Balkan führt, ergibt die Suche nach einem Eintrag zur Westeuropäischen Geschichte lediglich, dass eine solche nicht existiert, weil sie der Normalfall ist. Anders steht es scheinbar um die andere Seite Europas.
Was ist eigentlich die Geschichte Osteuropas?
Die ersten Slawistiken wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, Lehrstühle mit der Denomination „Osteuropäische Geschichte“ existieren erst seit Anfang des 20. Jahrhundert. Die ersten wurden 1902 in Berlin und 1908 in Wien geschaffen. Wenngleich keine wissenschaftliche Disziplin frei von politischen Interessen ist, so besteht doch ohne Zweifel eine besondere Indienstnahme von Regionalwissenschaften bzw. Area Studies, in denen, wie Anne Kwaschik schreibt, „imperiales Wissen zur Wissenschaft“ (Anne Kwaschik, Der Griff nach dem Weltwissen. Zur Genealogie von Area Studies im 19. und 20. Jahrhundert, 2018) wurde. Das gilt auch für die Institutionalisierung von Osteuropawissen an deutschen Hochschulen. Die erlebte mit der sogenannten Ostforschung, die als wissenschaftliche Grundlage der Vernichtungspolitik der Nazis gilt, ihren traurigen Höhepunkt.
Nach 1945 erfuhr die Osteuropaforschung eine Renaissance.
Einer der bis heute wichtigsten Fachverbände der Disziplin, 1913 als Gesellschaft zum Studium Russlands ins Leben gerufen, benannte sich 1949 in Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde um. Ein Jahr zuvor hatte sich in den USA der weltweit größte Wissenschaftsverband der Osteuropaforschung, die Association for Slavic, East European, and Eurasian Studies, kurz ASEEES, gegründet. Im Zuge des Kalten Krieges erlebte die Russland- und Osteuropaforschung überall in Westeuropa und Nordamerika einen institutionellen Ausbau. Gleichzeitig fand auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs Osteuropaforschung statt, auch wenn diese dort zumeist Marxismus-Leninismus oder Geschichte der Sowjetunion hieß. Das Ende des Staatssozialismus nach 1989 versprach schließlich nicht nur die Überwindung der Ost-West-Dichotomie, sondern auch die Abschaffung von Wissenschaftsgrenzen.
Wozu also noch eine Geschichte Osteuropas ohne Osteuropa?
Diese Frage hat der Russland-Historiker Jörg Baberowski 1997 in einem Essay mit dem Titel „Das Ende der Osteuropäischen Geschichte“ gestellt. Darin moniert er die Rolle des eigenen Faches als „bloßen Appendix der geschichtswissenschaftlichen Institute an den Universitäten“(Jörg Baberowski, Das Ende der Osteuropäischen Geschichte: Bemerkungen zur Lage einer geschichtswissenschaftlichen Disziplin, Osteuropa 48,1998) und proklamiert, dass „der Osteuropäischen Geschichte mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches die geographisch verortete Legitimation abhanden gekommen“ ist. Der Beitrag zog seinerzeit eine breite Diskussion in der Community nach sich, in deren Folge sich zahlreiche Wissenschaftler:innen für das Fortbestehen des eigenen Faches stark machten.
Die damalige Theoriedebatte ging einher mit dem sogenannten „spatial turn“ in den Sozialwissenschaften, in Folge dessen Raumvorstellungen ganz grundsätzlich hinterfragt wurden. Es stellte sich die Frage: Wo und wann fängt Osteuropa an und wo hört es auf, wenn wir die Grenzverschiebungen und Verflechtungsräume der Kyjiwer Rus, des Osmanischen Reiches oder die Staaten des Warschauer Pakts gleichermaßen in den Blick nehmen? Wissenschaftler:innen wie Larry Wolff und Maria Todorova haben schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass Osteuropa oder der Balkan nicht nur als Geschichtsräume, sondern auch als mentale Landkarten des Westen fungieren. In unserer Vorstellung von Modernität, ist dieser Osten immer ein Stückchen rückständiger, gewaltvoller, weniger „entwickelt“. Oder wie Slavoj Žižek es überspitzt auf dem Punkt brachte:
Der Balkan beginnt immer ein Stückchen weiter unten.
Für die Menschen aus München beginnt er hinter der Grenze nach Österreich, für die Österreicher:innen in Slowenien, in Ljubljana verweisen sie auf das benachbarte Kroatien und dort schütteln sie nur die Köpfe und zeigen weiter nach Bosnien. (Slavoj Žižek, You May, London Review of Books, 1999). Das gleiche gilt auch für Osteuropa, das wahlweise in Ostdeutschland, Polen oder der Ukraine beginnt, die ohne Zweifel vieles verbindet, aber nicht zuletzt die Tatsache, dass niemand Osteuropa und alle Europa sein wollen.
Wer entscheidet darüber, wessen Geschichte zu Europa gehört?
Ein Blick auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaften nach 1989 im vereinigten Deutschland zeigt, dass wir es bis heute mit einem starken Bias in der Bewertung dieser Frage zu tun haben – sowohl im deutschen als auch im europäischen Vergleich. Ostdeutschland nimmt hier eine Sonderstellung im postsozialistischen Raum ein, wurde hier im Zuge des Einigungsprozesses die gesamte DDR-Hochschullandschaft erneuert. Nach westdeutschem Vorbild wurden Professuren für Osteuropäischen Geschichte an ostdeutschen Hochschulen eingerichtet und neu besetzt. Heute ist das Problem nicht so sehr das Fehlen von Osteuropa-Lehrstühlen im deutschen Wissenschaftssystem, sondern vielmehr die Abwesenheit von Osteuropa-Expertise an allen anderen Lehrstühlen und Instituten, in denen häufig nach wie vor eine hegemoniale westeuropäische Perspektive besteht:
Sie erklärt das Eigene noch immer zur Norm und essenzialisiert „den Osten“ als das Andere
Ein dekoloniales Verständnis von Wissenschaft- und Wissenschaftskommunikation, wie es für andere Area Studies wie die Asien- oder Afrikawissenschaften schon lange gefordert wird, bedeutet ganz konkret: Neben jedem in Berlin oder München sozialisierten Experten, dessen Kompetenz in diesen Tagen besonders gefordert ist, sollte eine in Kyjiw oder Charkiw sozialisierte Expertin stehen. Auf jedem Panel, in jedem Sammelband, in jeder Fußnote sollte Wissen über Osteuropa geteilt werden, dessen Wurzeln über die Grenzen der deutschen Osteuropageschichtsschreibung hinausgeht. Dafür braucht es eine wissenschaftliche Infrastruktur, die das möglich macht. Und eine integrative Geschichtsschreibung, in der Osteuropa selbstverständlicher Bestandteil ist.
Den ausführlichen Text mit Anmerkungen und Fußnoten von Elisa Satjukow Osteuropa (ver)lernen. Ein Plädoyer für eine neue Geschichtskultur finden Sie in: Zeitgeschichte-online, März 2022, unter https://zeitgeschichte-online.de/themen/osteuropa-verlernen Wir durften ihn hier freundlicherweise zweitverwerten.
Unsere Autorin:
Dr. Elisa Satjukow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte der Universität Leipzig. Ihre Dissertation Die andere Seite der Intervention. Eine serbische Erfahrungsgeschichte der NATO-Bombardierung 1999 wurde mit dem Förderpreis der Südosteuropa-Gesellschaft ausgezeichnet. Sie hat in Leipzig, Belgrad und Wolgograd Ost- und Südosteuropäische Geschichte, Allgemeine- und Vergleichende Literaturwissenschaft und Russistik studiert und war Fellow im Promotionsprogramm Trajectories of Change der ZEIT-Stiftung. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitete sie als Projektleiterin für das Kompetenzzentrum Mittel- und Osteuropa Leipzig und als Koordinatorin des Internationalen MitOst-Festivals. Ihr Fokus liegt auf der Verflechtungsgeschichte Ost- und Südosteuropas vom 19. bis 21. Jh., insbesondere Alltags-, Geschlechter-, Transformations-& Wissensgeschichte, Erinnerungskulturen, Postkoloniale Studien sowie Theorien und Methoden der Geschichte
Veröffentlicht am 20. Januar 2023