Oszillierende Bildwelten
Im letzten Teil der vier Werkstattberichte, die in der Zeitschrift Die Deutsche Bühne erschienen sind, erläutern die Bühnen- und Kostümbildnerin Pia Dederichs und der Videokünstler Kai Wido Meyer das visuelle Konzept für das Musiktheaterprojekt Ich bin Carmen. Die Uraufführung am Theater Bremen wurde wegen Corona zunächst verschoben und findet jetzt am 19. November 2021 statt.
Die Uraufführung am Theater Bremen wurde wegen Corona zunächst verschoben und findet jetzt am 19. November 2021 statt.
Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir an den Iran denken? In dem Projekt Ich bin Carmen kommt gerade uns als Ausstatterin und Videokünstler die Aufgabe zu, die Welten der Figur der Carmen von Georges Bizet mit der Lebensrealität der Sängerin Hasti Molavian auf sinnliche Art miteinander zu verbinden – einen uns unbekannten Ort, eine Gedankenwelt und einen biographischen Weg in eine assoziative Bildsprache zu übersetzen. Der Ausgangspunkt unserer Reise ist der Iran, ein Land, in dem wir beide noch nicht waren, das wir nur aus Nachrichten, Filmen und Erzählungen kennen. Die Bilder, die wir uns davon machen, bleiben immer nur eine Idee von Wirklichkeit, in die wir uns als in Westeuropa Aufgewachsene nur schwer bis gar nicht hineinversetzen können. Wie sieht eine Kindheit in Teheran aus? Welche Landschaften umgeben und prägen ein Kind aus dem Iran? Wie kommt ein persisches Mädchen zur klassischen Musik von Mozart, Verdi oder eben Bizet?
Wir thematisieren sie in unseren Bildern daher direkt: unsere eingefärbte Sicht, unsere Klischeevorstellungen und Erwartungen an einen Ort, an eine Biographie, und versuchen gleichermaßen, ihnen die Oberflächlichkeit zu nehmen. Mit unseren visuellen Setzungen wollen wir keine allgemeingültigen Antworten geben, nur Fährten legen, die erst durch Hasti Molavians Spiel zu konkreten Abbildern ihrer Wirklichkeit werden können. Dieses Spiel mit Geschichte, Identität und Erwartung ermöglicht uns einen reizvollen Wechsel der eigenen Perspektive und das Auflösen märchenhafter Zuschreibungen aus „Tausendundeiner Nacht“, mit Hasti Molavian als Weltenwandlerin im Dazwischen.
Der Bühnenraum definiert sich über Symbole, die uns in den Sinn kommen, wenn wir an den Iran denken. Wir spielen mit den Erwartungen und Projektionen einer uns unbekannten, in vielen Augen „exotischen“ Lebenswelt, während wiederum Hasti Molavian uns zeigt, was diese Klischees mit einer Biographie machen – als Exiliranerin, die sich in der westlichen Opernwelt bewegt, und als Sängerin, die uns mit den klischierten Entwürfen der Carmen-Figur konfrontiert.
Dieses Spiel mit Identitäten und Erwartungen wird auf einer offenen Bühne stattfinden, die klar als Theaterraum zu erkennen ist. Auf der Bühnenfläche wird ein Prospekt ausgelegt sein, auf dem ein persisches Motiv abgebildet ist. Hier rekurrieren wir auf die traditionelle persische Erzählweise Naghali, in der die Geschichten immer von persischer Malerei unterstützt werden. Über einen Zug kann das Tuch nach oben gezogen werden, sodass sich die Malerei durch das Video kontinuierlich verändert. Von der Bühnendecke rieselt Sand, aus dem – von beweglichen Ventilatoren aufgewirbelt – immer neue Sand-Wüstenlandschaften, Spuren und Ebenen entstehen. Darüber schwebt eine ausgehöhlte Autokarosserie, die bewegt, bespielt und auf die projiziert werden kann. Das Auto fungiere im Iran – so beschreibt es Hasti Molavian – als Symbol der Freiheit: Mit ihm sei es möglich, in eine andere Welt zu entfliehen, im öffentlichen Raum ganz privat zu sein – das Auto als Transitort zwischen den verschiedenen Welten. Aus diesen drei „einfachen“ Elementen soll sich ein poetisch-assoziativer Raum entfalten, in dem Hasti Molavians Biographie ihre Spuren hinterlassen kann.
Ist Wirklichkeit abbildbar? Ist es möglich, Leben in Bilder zu bannen? Abbas Kiarostami, iranischer Drehbuchautor und Filmregisseur, dessen Fotos und Filme das Videokonzept stark inspiriert haben, hat sich mit jenen Fragen der Darstellbarkeit auseinandergesetzt. Erinnerungen sind immer Abbilder unserer Wahrnehmung. Wie durch eine Brille, deren Gläser stets andere Dioptrienstufen haben, wirken sie manchmal verzerrt, mal rosarot, mal eingetrübt. Immer ist unsere Wahrnehmung im Weg – wie durch eine Scheibe blicken wir auf bereits Geschehenes zurück. Im Videokonzept zu Ich bin Carmen wollen wir jene Fenster, die zwischen der Wirklichkeit und unserer Wahrnehmung liegen, thematisieren. Auf welcher Seite stehe ich? Sehe ich hinein oder hinaus? Wir wollen mithilfe von Fenstern, Spiegeln und Reflexionen auf Hasti Molavians Heimat, den Iran, blicken. Die Bildwelten oszillieren zwischen realen Lebenswelten und der Wahrnehmung der Betrachtenden – der Filmemacher und der Zuschauer. Zwischen Heimat und Fremde, fremder Heimat und neuer Umgebung wird das Fenster somit zum videoästhetischen Stilmittel.
Die ursprüngliche Idee, gemeinsam mit einem Filmteam und Hasti Molavian nach Teheran zu reisen und Aufnahmen mit ihr vor Ort zu drehen, musste wegen der Corona-Pandemie und den derzeitigen politischen Spannungen neu gedacht werden. Wir konnten mit Bahman Iranpour, Azhdar Molavian, Nastaran Iranpour und Davood Danesh ein iranisches Kamerateam für uns gewinnen, das in engem Austausch Aufnahmen in und um Teheran herstellen wird. Das Publikum erlebt die realen Schauplätze im Iran somit durch eine doppelte Brille: Ein deutsches Team kreiert Bilder, die durch die Linse eines iranischen Filmteams eingefangen werden. Ein vertrauter Einblick, der auf andere Weise verborgen bliebe.
Während der Performance wird unsere Protagonistin per Greenscreen in diese Bildwelten eingepasst. Diese Montage wird nicht nur zum Ausdruck einer verschwommenen Erinnerung, sondern gleichsam zur Metapher der Heimatlosigkeit und Zerrissenheit der Hauptfigur. Dort und doch nicht dort steht sie mal in den Straßen Teherans, mal trägt sie ihre Heimat als Bild unter dem Arm, während sie sich durch europäische Städte bewegt.
Neben Hasti Molavians biographischen Ankerpunkten wird es auf der Bildebene auch Verweise auf die vielfältige Rezeptionsgeschichte der Oper Carmen geben, die sich als eines der wenigen Musiktheaterwerke auch Nicht-Opernkennern ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat. Auch Filmregisseure wie Ernst Lubitsch, Otto Preminger und Francesco Rosi oder der Berlinale-Gewinnerfilm U-Carmen von Mark Dornford-May haben sich mit dem Mythos der Carmen auseinandergesetzt und sind Spiegel einer Fülle an Möglichkeiten, Carmen als Folie für ganz unterschiedliche Erzählungen zu sehen. In unserem Fall die Geschichte von Hasti Molavian, zwischen Iran und Europa.
Unsere Autoren
Pia Dederichs, 1986 in Ahlen geboren, studierte Bühnen- und Kostümbild an der Theaterakademie Maastricht und der Nationalen Kunstakademie Sofia. Seit 2013 war sie als freiberufliche Bühnen- und Kostümbildnerin unter anderem an der Volksbühne Berlin, der Staatsoper Stuttgart, dem Berliner Ensemble, dem Theater Bremen, dem Gavella Theater Zagreb und der Deutschen Oper Berlin tätig. Pia Dederichs arbeitet mit Paul-Georg Dittrich, Babett Grube, Miriam Horwitz, Clara Kalus, Ulrike Schwab und Alexander Eisenach.
Kai Wido Meyer, geboren 1979 in Aurich, war neben seinen Arbeiten im Filmbereich als Regisseur und Cutter von Spielfilmen, Werbefilmen und Kunstprojekten auch für das Theater Bremen, Staatstheater Mainz, Theater Erlangen, Staatstheater Darmstadt und viele andere als Videodesigner für Schauspiel und Oper tätig. Er lebt in Berlin.
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