Probeneinblicke ICH BIN CARMEN

Dramaturgin Isabelle Becker berichtet wöchentlich von den Proben zu „Ich bin Carmen – Und das ist kein Liebeslied“

Mehr als zwei Jahre liegt es inzwischen zurück, dass sich um eine Stückidee herum nach und nach ein neues künstlerisches Team formierte: Mezzosopranistin Hasti Molavian, Regisseur Paul-Georg Dittrich, Komponist und Pianist Tobias Schwencke, Christopher Scheuer, Komponist für Live-Elektronik und Sensortechnik und ich als Dramaturgin. Zwei Jahre, in denen sich erste Gedanken zu einem Konzept verdichteten und aus ersten Ideen ein konkretes Vorhaben wurde, ein Musiktheater für eine Sängerin, Live-Elektronik und Klavier: Ich bin Carmen – Und das ist kein Liebeslied.

Die Geschichte der im Iran geborene Sängerin Hasti Molavian steht im Zentrum des Projektes.

Mit siebzehn Jahren verließ sie ihre Heimat, um ihren Traum zu leben: eines Tages als Opernsängerin auf einer Bühne zu stehen. Etwas, was ihr in ihrer Heimat verwehrt wurde und bis heute verwehrt bleibt, denn Frauen im Iran ist untersagt, öffentlich solistisch zu singen – vor allem vor einem männlichen Publikum. Zwei deutliche Zuschreibungen, die sich hier zu einem Strang vereinen: die Sängerin, die mit ihrem Gesang Männer im Publikum zu verführen droht und die Figur der Carmen als in der Opernwelt seit geraumer Zeit etablierter Archetypus der femme fatale. Assoziativ werden Hasti Molavians autobiografische Erlebnisstränge mit den Themen und Motiven aus Bizets Oper Carmen verwoben, um Gesellschafts- und Geschlechterbilder auf mehreren Ebenen zu hinterfragen und einen neuen Klangkosmos zu kreieren, in dem persische Traditionen genauso ihren Platz haben wie Georges Bizets prägnante „Opernhits“.

Im Kollektiv haben wir eine vollkommen neue Stückdramaturgie entworfen, Texte verfasst, musikalische Ideen in Noten gebannt und erste Soundsamples entwickelt.

Seinen Ursprung nahm alles in Bremen. Bei einem Spaziergang an der Weser im Sommer 2018, am Rande der Vorproben zu Fidelio: Regisseur Paul-Georg Dittrich und seine Frau, Hasti Molavian, verspürten beide die große Sehnsucht, wieder gemeinsam an einer Produktion zu arbeiten. Ein Jahr zuvor hatten sie sich – damals war Hasti Molavian noch Mezzosopranistin am Theater Bielefeld – bei den Proben zu Verdis Otello kennengelernt. Welche Opern sie denn gerne noch singen würde, welche er inszenieren? Sie kamen recht schnell auf Bizets Carmen – eine der Wunschpartien einer jeden Mezzosopranistin und eine echte Herausforderung für jede*n Regisseur*in. Sie verständigten sich über die Inhalte, über die Grundthemen und Fallhöhen, die der Carmen-Stoff für Interpretierende auf beiden Seiten bereithält.

Sie sprachen über neue Formate des Musiktheaters. Muss es denn der große Opernapparat sein oder ist ein projekthafter, performativer Zugang nicht reizvoller?

Am Ende des Spaziergangs stand fest: Die Parallelen zwischen Hasti Molavians Biografie und Bizets Carmen sind beachtlich und gleichermaßen inspirierend. Erste Ideen wurden zu Papier gebracht. Hinzu kam, dass Paul-Georg Dittrich in diesen Sommer erstmals in Hasti Molavians Heimat, nach Teheran, reiste. Seine Eindrücke weckten noch größeres Interesse, an der Schnittstelle Carmen/Hastis Biografie weiter zu erforschen. Im Herbst, noch vor der Premiere von Fidelio, schickte er mir den ersten Konzeptentwurf. Die Theater in Bielefeld und Bremen verständigten sich über die Art der Kooperation. Anträge wurden geschrieben. Premierentermine wurden angesetzt und wieder verschoben. Die inhaltliche Arbeit ging weiter – online, versteht sich.

Nun geht der Prozess in die zweite Runde: Zuvor Erdachtes wird auf seine Machbarkeit geprüft: Wie werden Klänge erzeugt, mit unserem Instrumentarium und im Rahmen unserer Setzung? Wie kommen Szene, Musik, Text, Video, Raum und Kostüme konkret zusammen?

Diesen Entwicklungsprozess wollen wir offenlegen. Neben den vier Werkstattberichten, die eigens für die Zeitschrift Die Deutsche Bühne verfasst wurden und jetzt wöchentlich auf unserer Homepage erscheinen, gewähre ich in diesem Artikel wöchentlich fortlaufend einen kleinen Einblick in unsere Probenarbeit, werfe Schlaglichter auf Fragen und thematische Blöcke, mit denen wir uns in unserer musikalischen und szenischen Erarbeitung des Projektes auseinandersetzen.

ENDPROBENWOCHE: *BACK AGAIN!*

10.11.-14.11.2021 // PROBEBÜHNE HEMELINGEN
15.11.-19.11.2021 // KLEINES HAUS

Sieben Monate sind inzwischen vergangen, seit das Team von Ich bin Carmen sich wieder in alle Himmelsrichtungen – nach Wien, Berlin, Mannheim u. a. – verstreut hat. Der neue Premierentermin wurde hoffnungsvoll auf Mitte November 2021 verschoben – und: Da sind wir wieder.

Es hat weiter in uns gearbeitet und wir daran: Christopher Scheuer arbeitete in der Zwischenzeit an der Feinjustierung der elektronischen Klänge und an der Sensitivität des sensorischen Handschuhs. Tobias Schwencke komprimierte alles, was zuvor im Probenprozess in Improvisationen entstanden war, in einen greifbaren Notentext. Videokünstler Kai Wido Meyer hat mit Sängerin Hasti Molavian und Regisseur Paul-Georg Dittrich in Bremen Filme vorproduziert und natürlich ist Hasti seit einigen Wochen wieder dabei, alles Erarbeitete ins Gedächtnis zu rufen und gemeinsam mit Georg hier und da zu verändern.

Seit Donnerstag 10. November treffen wir auch nach langen Monaten wieder live aufeinander – nach und nach trudelt das alte Team ein. Erst die Musik, dann alles Bühnentechnische /-ästhethische und am 14. November alle und alles vereint auf unserer geliebten Probebühne in Hemelingen – bevor wir Montag mit geeinten Kräften in den Endproben im Kleinen Haus starten. Endspurt --- 18. November GP und Voraufführung // 19. November Premiere!!!!!

4. WOCHE: *BÜHNENPROBEN – UND WIR KOMMEN WIEDER!*

20.03.2021 // PROBEBÜHNE HEMELINGEN // 10-18 Uhr
30.03.2021-31.03.2012 // KLEINES HAUS // 10-22 Uhr

Mo. 29.03.2021 – Umzug ins Haus

Während die Technik schon seit dem frühen Morgen das Bühnenbild aufbaut, Ton- und Videoabteilungen das besprochene Surrounding einrichten, finden wir uns noch einmal in Hemelingen zusammen und gehen mit kleinen Unterbrechungen die bisher erarbeiteten Szenen nach und nach durch. Sind wir musikalisch bereit? Stimmen die szenischen Verabredungen und Haltungen?
19 Uhr. Treffpunkt auf der Bühne des Kleinen Hauses. Technische Programmierprobe. Paul-Georg Dittrich richtet mit Unterstützung der Regieassistentin Leonie Schubert, Ausstattungsassistentin Katharina Lackmann und Inspizientin Caroline Blanck die „Fahrten“ des Autos ein. Wann wird das Auto, das in den Zügen des Kleinen Hauses hängt, nach oben gefahren, wann in Schräglage gebracht? Welcher Cue löst die Fahrt aus, in welcher Zeiten findet sie statt? Wie viele Zentimeter darf das Auto über dem Boden schweben – mit Hasti in Aktion oben drauf? Um 21 Uhr dann die Probe aufs Exempel. Hasti klettert seit der Bauprobe erstmals wieder auf das Auto, macht sich mit Vorgängen vertraut. Das Fluggeschirr wird angelegt und wie von Zauberhand schwebt das Auto mit ihr in den Bühnenhimmel …

Dienstag 30.03.2021 – Erste Bühnenproben

9 Uhr. Tonprobe. Stimmt der Sound? Funktioniert der Sensorhandschuh? Um 10 Uhr ist die Bühne bereit für die erste szenische Probe im Originalraum. Die Stimmung ist an diesem Tag gewohnt aufgeregt. Wir beginnen mit dem Einlass, gehen jede Aktion, jeden Schritt durch. Lässt sich das Erarbeitete ohne Weiteres von der Probebühne auf die Bühne übertragen? Weiter mit dem Chanson et mélodram. Zum ersten Mal klingen die musikalischen Texturen – die wir auf der Probebühne nur über zwei Boxen zu hören gewohnt waren – durch den Raum. Zum ersten Mal ertönt Hastis Stimme. Atmosphären stellen sich sogar schon im Probenlicht her. Erste Erleichterung. Die Szenen lassen sich sehr gut übertragen.
Am Nachmittag stehen auf der Bühne Beleuchtungs-und Videoproben an. Paul-Georg Dittrich, der Beleuchtungsmeister sowie Videokünstler Kai Wido Meyer (per Zoom zugeschaltet) kreieren erste Stimmungen. Ist der richtige Zugang für das Lichtkonzept schon gefunden? Ist das Video in all seiner Kraft zu sehen? Ideen werden verworfen, Kontraste im wahrsten Sinne geschärft. Für Hasti, Tobias Schwencke und Christopher Scheuer stehen am Nachmittag Aufnahmen im theatereigenen Tonstudio an. Texte werden eingesprochen und ausgewählte Momente zur musikalischen Weiterverarbeitung eingesungen.
Am Abend kommen wir um 19 Uhr wieder auf der Bühne zusammen, machen dort weiter, wo wir am Mittag aufgehört haben: Stück für Stück durchs Stück. Um 22 Uhr beenden wir mehr als beseelt den ersten Tag auf der Bühne.

Mittwoch 31.03.2021 – Endspurt

10-14 Uhr. Die dritte und leider schon vorletzte Bühnenprobe. Ziel ist es, am Vormittag alle Szenen ins Bühnensetting übertragen zu haben. Die noch ausstehende Strecke: Naghali, Liebesduett, Duett, Tarotkarten-Monteverdi-Arie. Von der Dunkelheit der Zuschauertribüne beobachte ich, wie Hasti sich immer mehr in den Kampf mit sich selbst hineinschraubt. Sehr intensiv und auch ohne Originallicht, -kostüm und -video bereits sehr berührend. Sie schafft sich aus Sand eine Ruhestätte. Das Auto senkt sich immer weiter ab. Bühnenmeister*in steht in Habachtstellung nebendran. Zur Not wird sofort gestoppt. Wird Hasti sich rechtzeitig herausrollen können?
15 Uhr. Draußen sind es sonnige 23 Grad. Das Team hat eine weitere Beleuchtungsprobe im dunklen Zuschauerraum. Die Stimmung ist produktiv und alle sind dankbar, wieder an einem gemeinsamen Projekt zu feilen.
19 Uhr. Unser ambitioniertes Vorhaben für die Abendprobe ist ein Gesamtdurchlauf – mit Technik – ohne Unterbrechungen. Eine Kamera-Totale soll alles konservieren. Nach 1.15 Stunde sind wir durch. 90 Prozent des Stückes sind geschafft. Alle – insbesondere Hasti, Tobias Schwencke und Christopher Scheuer – haben alles gegeben. Wir kommen ohne großen Unterbrechungen durch. Ein guter Abschluss.

Das Ende ist noch offen

Jetzt heißt es auswerten: Bestimmte Stellschrauben werden angezogen, Texte geschärft und umgestellt. Das Ende ist noch offen – offen ist auch, wann die Produktion ICH BIN CARMEN in Bremen ihre Premiere feiern wird. Die Bremer Infektionszahlen verlangen eine erneute Verschiebung der Premiere.
Auf unserer To-Do-Liste stehen einzelne musikalische und szenische Verbesserungen sowie das Erarbeiten der Schlusskurve. All das geschieht, wenn wir als Team wieder in Bremen zusammenkommen und in einer finalen Endprobenwoche, mit allen Gewerken und helfenden Händen, unserem Projekt wieder Leben einhauchen können.

3. WOCHE: *PROBEN, PROBEN, WEITERPROBEN*

22.03.2021-27.03.03.2021 // PROBEBÜHNE HEMELINGEN // 10-18 Uhr

Neue Woche, neue Aufgaben. Wir haben nach unserem ersten Teilablauf zahlreiche Änderungen in unsere szenische Struktur eingearbeitet, Nummern umgestellt, größere Striche und Zusammenlegungen vorgenommen. Regisseur Paul-Georg Dittrich nutzt die ersten vier Stunden am Montagvormittag, um mit Hasti die Änderungen auf bereits erarbeitete Szenen zu übertragen. Erkenntnis: Es fühlt sich richtig(er) an. Jetzt heißt es, konzentriert weiterproben, bevor sich die pandemische Lage wieder auf den Theaterbetrieb auswirkt. Selbsttests sei Dank – noch geht es weiter.

Séguedille Nr. 10 – Carmen einverleiben – „Ich schreibe dich“

Carmen spielt in der Rangliste der meistgespielten Opern immer vorne mit. Unser Videokünstler Kai Wido Meyer hat den Charakter verschiedener Carmen-Inszenierungen eingefangen und zusammengeschnitten, hat verschiedene Interpretationen in einer Nummer – der Séguedille Nr. 10 –  vereint. Markantes Flötenmotiv. 3/8 Takt. „Près des remparts de Séville“. Einige szenische Motive wiederholen sich: Man sieht, wie verschiedene Carmen mal verführerisch mit einem Strick um ihre Handgelenke tanzen, wie andere sich auf Don Josés Schoß niederlassen. Maria Callas erscheint im Closeup. Im Verlauf dieser Szene wird Hasti selbst zu Carmen. Sie eignet sich Carmen an, verleibt sie sich ein, überschreibt sich selbst: „Ich möchte dich endlos auspressen, damit du niemals sterben musst.“ Was nachher als Video im gesamten Raum projiziert wird, sieht Hasti auf der Probebühne nur über den Laptop. Sie imitiert und entwickelt eine spielerische Lust, sich die Rolle der Carmen anzuziehen. „Ich übermale dein Gesicht mit meinen Träumereien, gebe meine Lügen dazu, alles, was mich trösten kann.“

Chanson bohème Nr. 12 – Islam Chipsy

Man sollte es sich einmal anhören/ansehen: Mahragan oder Elektro-Shaabi ist ein Genre ägyptischer Tanzmusik, eine Kombination aus traditioneller Hochzeitsmusik und elektronischen Sounds mit starken Beats. Suche bei youtube: „E.E.K feat. Islam Chipsy“. Islam Said oder Islam Chipsy ist einer jener Musiker, der Tradition und Elektro-Shaabi vereint. Seine Musik ist vor allem instrumental, besteht aus schrägen Midi-Keyboard-Sounds und rasant-rasselnden Drumbeats. Die Musik versprüht Lebensfreude. Man will sofort lostanzen.
Nr. 12, „Chanson bohème“. Erste Liedzeile: „Metallisch klangen die Stäbe des Sistrums“ (Sistrum=eine Rahmenrassel aus dem alten Ägypten). In dieser Nummer hat Bizet am stärksten versucht, sich die Atmosphäre der Musik der Sinti*zze und Rom*nja anzueignen. Ganz so, wie er sie sich vorgestellt hat. Nicht unheikel, aber das Stück entwickelt eine Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Die Stimmung ist positiv. Der Refrain ist einfach und eingängig: „Tra la la la…“.
Hasti erzählt uns in diesem Moment von der aufgeregten, flirrenden Stimmung des iranischen Neujahrsfestes, Nowruz (21. März). Ein Fest, das den Frühling und die Familie feiert. Ein großer Taumel. Alles ist bunt, alles ist in oranges Licht unzähliger Fackeln getaucht und im kurdischen Bergdorf Palangan bilden sich riesige Tanzkreise von Menschen, die bis zum Morgen feiern. Diese Stimmung wollen wir einfangen, mit einer Metamorphose vom Bizetschen „Chanson bohème“ in die Samples und anzitierten Klänge von Islam Chipsy. Hasti schenkt uns hier ein Stück Lebensfreude ihrer Heimat.

Ein Liebesduett / Entr’acte 3. Akt

Ein richtiges Liebesduett sucht man in Bizets Carmen vergeblich. Aber die Liebe ist, so besingt es Carmen in ihrer Habanera, ohnehin eine diffizile Sache: „Die Liebe bleibt fern, wenn du auf sie wartest. Wenn du nicht mehr wartest, ist sie da.“ Man kann nichts erzwingen. Was wir intern „Liebesduett“ nennen, ist das instrumentale Zwischenspiel zwischen dem 3. und 4. Akt. Harfe und Flöte gehen einen intimen Dialog ein. Christopher Scheuer, sonst der Mann für Live-Elektronik, spielt mit Flatterzungenschlag und viel Hauch und Atem die Querflöte. Die Melodie wird ins Unendliche gedehnt. Tobias Schwencke hat das Klavier so präpariert, dass Glockenklänge aus dem Klavier ertönen. Im Video begegnet Hasti sich selbst. Lebensentwürfe prallen aufeinander, Carmen trifft auf Don José. Hier braucht es keine Worte.

Duett mit sich selbst – „Auto-Action“

Carmen und Don José im Duett. Zwei Seelen in ihrer Brust. Erinnerungen einer bekannten Melodie münden in einem zweifelnden Zwiegespräch. Mal gesungen, mal gesprochen. Die Stimme des Don José erklingt wieder aus den Boxen, sobald Hasti die Hand zusammenballt. „In dieser Szene gibt es viel Auto-Action“, verrät Paul-Georg Dittrich. Auf einer Probebühne mit einem liebevoll von der Technik zusammengezimmerten Auto-Dummy aus Holz muss Hasti sich viel imaginieren – im Original gerät das Auto durch Fahrten der Bühnenmaschinerie in Schräglage oder schwebt. Sie muss sich aus Sicherheitsgründen in ein Fluggeschirr einhaken. Das alles passiert vorerst „trocken“.
Umso mehr freut man sich auf die kommende Woche: Am kommenden Montag ist die Technische Einrichtung (TE) auf der Bühne im Kleinen Haus. Um 21 Uhr abends kann genau jene „Auto-Action“ erstmals original probiert werden …

2. WOCHE *UND JETZT: ANDERS!*

16.03.2021-19.03.2021 // PROBEBÜHNE HEMELINGEN // 10-18 Uhr

Biografietext 2 – Wege im Sand

„Von oben gesehen ist Teheran von einem überirdischen Glanz umgeben“. Wir tauchen ab in den Kosmos einer Stadt. Begeben uns mit der siebenjährigen Hasti auf einen Spaziergang, imaginieren mit ihr und durch sie den Weg von der Valiasr Straße zum Azadi Platz. Was sind Hastis Erinnerungen an jene Mittwochmittage, als sie routiniert ihre Geige in einem blauen Müllsack verstaute, die Saiten mit einem Handtuch abdämpfte und sich ungehindert auf den Weg zum Geigenunterricht machte? Wie klingt Teheran? Fieldrecordings treffen auf musikalische Motive von Bizets Entr’acte aus dem 4. Akt, Erinnerungsschnipsel alter Tonbänder auf Klavierechos. Dazu sehe ich, wie sie ihre Wege im Sand beschreitet– stoisch fast und ganz in ihren Erinnerungen verheddert.
Dies ist nur einer von mehreren „Biografietexten“, in denen Hasti die Tür einen Spalt weit öffnet für persönliche Erfahrungen ihrer Kindheit. Sie erzählt von entscheidenden Erlebnissen und alltäglichen Begebenheiten aus dem Iran – jenseits von Klischees und Orientbildern.

Männerchöre – das fremde Mädchen / Nr. 1 Morales

Wie Fratzen brechen die Chöre der Männer über sie herein. Hasti ist nun mit 17 Jahren in Europa angekommen. Der „goldene Westen“ verspricht Freiheit – „liberté“ erschallt es in den Chören – aber was sie dort auch erlebt, ist das ständige Konfrontiertsein mit dem Bild des „fremden Mädchens“. In Bizets Carmen ist es eigentlich die Figur der Micaëla, die auf den Brigadier Morales und seine vulgäre Meute von Soldaten trifft und als neue Fremde im Zentrum des Begehrens steht. In einer anderen Szene fragen junge Männer ihre „Carmencita“ flehend, wann sie sie liebe und wen … Sowohl Carmen als auch Micaëla werden von den Männern in der Oper objektifiziert, eine geifernde Außenwelt formt ihr Bild. Hasti alias Carmen offenbart sich bei uns in der 8. Szene als Spielerin. Sie bedient das übersteigerte Gefühl männlicher Überlegenheit, indem sie den Part von Morales singt und sich regelrecht die Rolle der chauvinistischen Männerwelt einverleibt, um die Männerchöre dann – mit Hilfe des Sensorhandschuhs – musikalisch zu parodieren, zu verändern und zu manipulieren.  „Wann ich euch lieben werde, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht niemals, vielleicht morgen, aber gewiss nicht heute.“

Herkunftstext – Woher ich stamme …

„Wenn ich gefragt werde, woher ich stamme …“ Dieser Frage begegnet Hasti häufiger. Wenn sie dann den Iran als Herkunftsland nennt, schießen dem fragenden Gegenüber immer dieselben Bilder in den Kopf: entweder Atombomben, Krieg und Armut oder aber persische Teppiche und Tausend und eine Nacht. Abziehbilder, gegen die sie sich nur mit viel Kraft erwehren kann. Sie ist stolz anders zu sein und weiß auch um die Faszination, die sich um ihre Herkunft rankt. Aber sie will auch überrascht werden – nicht immer die gleichen Fragen, die ihr eine Maske überstülpen. Aus Gesprächen entstand ein persönlicher Text.

Habanera – „UND BITTE!“

„L’amour est un oiseau rebelle“ – „Die Liebe ist ein wilder Vogel. Wer ihn zähmen will, hat es schwer.“ Es ist der Beginn der berühmten Habanera, deren einprägsame Melodie und Tango-Rhythmik über die Grenzen der Oper hinaus bekannt sind. „AUF POSITION. UND BITTE!“: Sei wandelbar in der Stimme und im Ausdruck, flexibel in der Wahl der Partien. Verschiedene Sprachen, verschiedene Stile, verschiedene Gestaltungsweisen, hinzu kommen szenische Aktionen und stets der perfekte Stimmsitz. Als Opernsänger*in im Theaterbetrieb wird man vielfach gefordert, gelegentlich überfordert. „Ich habe es erlebt, wie die Opernmaschine, einmal angelaufen, funktioniert und ich mal ein flinkeres, mal ein hinkendes Rädchen im Getriebe bin.“ – Pianist Tobias Schwencke treibt Hasti vom Klavier aus an, Habanera folgt auf Habanera, aber keine gleicht der anderen: Bizets originale Habanera erklingt neben dem spanischen Volkslied El Arreglito von Sebastián de Yradier – die eigentliche Vorlage für  Bizets Habanera.  Auf Deutsch folgt Kroatisch, auf Englisch Spanisch und Jazz morpht in Weill-Brecht oder Balkanklänge. Bitte lächeln, bitte den Takt halten, Fahne oben halten und am besten alles gleichzeitig!

Teilablauf – und jetzt: anders

Letzter Tag unserer 2. Probenwoche. Wir haben schon viele Bausteine und Szenen musikalisch und szenisch angefasst. Am Ende einer Probenwoche mit einem Teilablauf zu enden, ist im Rahmen einer Projektentwicklung ein kleiner Meilenstein. Jetzt wird man zum ersten Mal ein Gefühl dafür bekommen, wie gut sich Szenen aneinanderfügen, ob die Übergänge stimmen und dramatische Bögen funktionieren. Nach etwa zwei Stunden – mit Unterbrechungen – wissen wir mehr. Vieles stimmt. Einiges noch nicht. Es gibt zu viele zusätzliche Ebenen, Szenenabfolgen wirken zu collagiert und müssen in größeren Einheiten gedacht werden. Am Wochenende heißt es straffen, kürzen, streichen, umstellen – damit wir am Montag wieder neu und mit frischem Blick loslegen können.

1. WOCHE *IM LABOR*

 08.03.2021 // KLEINES HAUS // BAUPROBE

Die Bauprobe, der offizielle Startschuss für jede Produktion am Haus – für Ich bin Carmen – Und das ist kein Liebeslied im doppelten Sinne. Um unnötige Reisen in pandemischen Zeiten zu vermeiden, fallen Bauprobe und Probenstart auf ein und denselben Tag. Regisseur Paul-Georg Dittrich vermittelt, wie üblich, allen anwesenden Gewerken (Technische Direktion, Bühnentechnik, Beleuchtung, Kostüm, Requisite etc.) die Grundzüge des Konzepts. Mitarbeiter*innen des Theater Bielefeld sind per Zoom zugeschaltet. Im Protokoll wird festgehalten: Das Auto schwebt und ist begehbar, der Sand ist Kork – denn Sand im Getriebe ist niemals gut –, die Videopositionen sind austariert und ungewöhnlich Requisitenanforderungen geklärt. Während alle Informationen der Bauprobe jetzt zurück an die Werkstätten gehen und umgesetzt werden, begeben wir uns als Team ebenfalls in unsere „Werkstatt“, ziehen weiter auf die Probebühne in Hemelingen. Ein guter Rückzugsort mit ganz eigenem morbidem Charme, in dem wir uns für die nächsten Wochen künstlerisch einrichten.

09.03.2021-13.03.2021 // PROBEBÜHNE HEMELINGEN // 10-18 Uhr

Dialog allein – oder der Sensorhandschuh

Wie gelingt ein Dialog, wenn nur eine Spielerin auf der Bühne steht? Komponist Christopher Scheuer, versiert in Sensortechnik, hat einen mit Gyroskop- und Flexsensoren ausgestatteten Handschuh entwickelt, der es Hasti (*im Folgenden beim Vornamen genannt) ermöglicht, Klänge über Bewegung selbst zu verändern. Jetzt heißt es: interaktives Anlernen. Jede Bewegung löst einen anderen Effekt aus. Die Dioden im Handschuh blinken, Hasti hebt den Arm, eine sonore Männerstimme erklingt statt ihrer Stimme aus den Boxen. Nein, weniger Darth Vader und Vocoder-Sound, mehr Fever Ray oder doch Caruso? Sprechend oder singend – Don José hat jetzt eine Stimme. Und doch ist es nur ein Dialog/ein Duett mit sich selbst – stehen Carmen und Don José doch für zwei Lebensentwürfe, zwei Seiten einer Medaille. Verkörpert Don José das Gefühl von Heimatverbundenheit und familiären Banden, steht Carmen für Freiheit, die aber an Bedingungen geknüpft ist – eben jene zwei Welten, zwischen denen sich die Performerin Hasti bewegt.

Chanson et Mélodram – oder der Phoenix aus der Asche

„Tra la la la la la la laaa“ … Die Klaviersaiten werden wie die einer Gitarre zart angeschlagen. Erneut ertönt leise-suchend die berühmte, trällernde Melodie aus dem Chanson im 1. Akt von Carmen. Auf Persisch gesprochen, bald vorsichtig tastend gesungen, erklingen dazu die Worte der iranischen Dichterin Forugh Farrochzād aus Hastis Mund: „Du bist für mich das helle, klare Himmelszeit / Ich aber ein gefangener Vogel auf der Erde.“ Es müsse noch mehr wie ein Geheimnis klingen. Paul-Georg Dittrich kreiert dazu gedanklich ein Bild: Langsam spreizt der Vogel seine gestutzten Flügel, richtet sich mühsam auf, breitet seine Flügel weit aus und versucht zu fliegen.

Chor der Zigarrenarbeiterinnen – wie eine Fata Morgana

Ein Klavier, eine Sängerin und Live-Elektronik. Wie entsteht daraus ein Chor, der eine surreale Traumatmosphäre vermittelt? Die Melodie des Zigarrenarbeiterinnen-Chores aus dem 1. Akt wurde von Tobias Schwencke durch weiche dissonante Verschiebungen der Tonhöhen an die Stimmung der Szene angepasst. Hasti singt eine Stimme ein. Durch Loop- und Harmonizer-Effekte entsteht nach und nach ein Kanon mit Tritonus-Echo. Wie einer Hydra erwachsen aus einer Stimme mehrere Stimmen und Köpfe. Klingt das schon wie ein Chor? Etwas fehlt. Durch harmonische Anpassungen der Stimmen versuchen wir, nach und nach einen magisch-surrealer Chorklang zu erreichen.

Naghali – oder Attars Vogelgespräche

Die Sehnsucht der Menschen anzukommen, um letztlich doch die Erlösung in einem selbst zu finden, spiegelt sich in der berühmten persischen Erzählung  Vogelgespräche von Attar aus dem 12. Jahrhundert wider. Hasti rezitiert/ improvisiert Ausschnitte daraus. Schönbergs Pierrot lunaire trifft auf Naghali – eine der ältesten Formen des dramatischen „Storytellings“ aus dem Iran. Die Geschichten werden durch große Gesten oder tänzerische Bewegungen des Erzählers untermalt, während der Erzähler zwischen gesprochenem und gesungenem Rezitieren wechselt. Wie lässt sich hierfür eine eigene musikalische wie szenische Übersetzung finden, um kulturelle Aneignung durch bloßes Adaptieren des Naghali zu vermeiden?

Ich bin Carmen – also bin ich ...?

Szenische Improvisation. Die Lichter sind gedimmt. Stimmungsvolle aber stückfremde Musik wird vom Laptop eingespielt. Hasti hat eine halbe Stunde Zeit, um sich den Raum zu erobern. „Spuren legen und hinterlassen.“ Erster Durchgang vorbei. Besprechung am Tisch. Paul-Georg Dittrich erkennt in der Carmen-Figur eine Diskrepanz zwischen gelebter Freiheit und individueller Verwirklichung. Sie richte sich immer nach einem Außen, versuche umzusetzen, was von ihr gefordert wird oder was sie glaube, erfüllen zu müssen. Wo steht Hasti als Perfomerin? Sie ist Kreateurin und Beobachterin zugleich. Zweiter Durchgang. Was bedeutet das für ihr Spiel?