Psychogramm einer Gesellschaft am Abgrund
Librettistin Julia Spinola beschreibt, was das Team der Musiktheater-Uraufführung Wellen an Eduard von Keyerlings gleichnamigen Roman als Opernstoff gereizt hat.
In einem kleinen Ostseebad prallen kurz vor der Menschheitskatastrophe des Ersten Weltkriegs die Sehnsüchte und Selbstverwirklichungsträume der Protagonisten aufeinander – und Eduard von Keyserling (1855 bis 1918) entlarvt sie alle als vergebliche Selbsttäuschungen. Die schöne Doralice, bei Keyserling eine junge Gräfin, ist aus dem gesellschaftlichen Korsett ihrer Ehe ausgebrochen und in wilder Sehnsucht nach dem „echten Leben“ mit einem unbegabten Maler namens Hans Grill durchgebrannt.
Eduard von Keyserling? Allen Ernstes?
Was geht uns das Schicksal durchgebrannter Gräfinnen und untergehender Adelsgesellschaften heute an? Ist das nicht feinster Fin-de-Siècle-Kitsch? Das werden wir als Produktionsteam gelegentlich gefragt, sofern die Skeptiker mit dem Namen Keyserling überhaupt mehr verbinden, als nur einen abgeschmackten Kalauer aus der Feder des Grafikers und Bühnenbildners Emil Preetorius. Dessen viel bemühter Schüttelreim „Als Gottes Atem leiser ging / schuf er den Grafen Keyserling“ bezog sich freilich ursprünglich nicht auf den Dichter unserer Textvorlage, sondern auf den Philosophen Hermann von Keyserling. Als Yoel Gamzou, Elmar Lampson, Philipp Rosendahl und ich vor etwa sechs Jahren bei unserer gemeinsamen Stoffsuche für eine neue Oper auf Keyserlings Roman Wellen aus dem Jahr 1911 stießen, lasen wir diesen Text vollkommen unbelastet von solchen Vorurteilen und entdeckten einen Autor, dessen tiefmusikalische Sprache, dessen glasklare Figurenpsychologie und hellsichtige Gesellschaftsanalyse uns begeisterten. Tatsächlich aber leiden die Werke Keyserlings bis heute unter einem irreführenden Missverständnis, wie es ähnlich auch die Musik Claude Debussys gelegentlich trifft:
Die Modernität beider wird unter dem Schlagwort des „Impressionismus“ weggelobt, indem man ihre Werke auf eine Oberflächenkunst farbenreicher Stimmungsmalerei reduziert.
Wer in Keyserling einen melancholischen Heimatdichter sieht, einen Meister nostalgischer Fin-de-Siécle-Erzählungen über den untergehenden kurländischen Adel, der mag sich natürlich zurecht fragen, worum man seinen Wellen im 21. Jahrhundert eine Oper widmet. Wir aber sehen in Keyserling weniger einen Autor des untergehenden 19. Jahrhunderts, als einen Protagonisten der anbrechenden Moderne und wir empfinden den Stoff seiner Wellen in seiner anteilnehmenden Illusionslosigkeit und seiner subtilen Ironie als hochaktuell. Aber zurück zur Handlung. Doralices Maler, Hans Grill, der so gerne ein weltverbessernder Künstler wäre, predigt das richtige Bewusstsein, schwingt große Reden von der Befreiung des Menschen, träumt von der Schwabinger Bohème und „verachtet die Etikette“, wie es im Text heißt.
Aber in Wahrheit ahnt er schon, dass in ihm doch bloß ein chauvinistischer Kleinbürger steckt, der Doralice eine Selbstverwirklichung als Innenausstatterin seines Münchner Reihenhauses nahelegt.
Während die Glückssuche Doralices und Grills schon am Beginn der Geschichte objektiv gescheitert erscheint, projizieren die Mitglieder der ebenfalls angereisten Offiziersfamilie von Buttlär ihre Träume, Ängste und Begehrlichkeiten auf das fremde Paar. In der Außeralltäglichkeit der Feriensituation fernab der Alltagsroutinen wachsen die Sehnsüchte und die Selbstdarstellungswünsche der Handelnden vor der imposanten Naturkulisse wie auf einer Bühne ins Unermessliche. Zunehmend nervöser, selbstbezüglicher und überdrehter taumelt man einer bevorstehenden Katastrophe entgegen.
Die schiere Übermacht des Meeres entlarvt all die „großen Gefühle“ und die geträumten Taten schließlich als Selbsttäuschungen.
Keyserling malt keine nostalgischen Kitschpostkarten, sondern er dekonstruiert das Idyll, das seine schönheitssüchtigen Figuren suchen. Er erstellt das Psychogramm einer untergehenden Gesellschaft am Rande des Abgrunds – aber tut dies voller Sympathie und Anteilnahme für seine Protagonisten, in deren Seelenleben er sich versenkt.
Veröffentlicht am 9. Mai 2025.